© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Machtstützendes Potential der Religion
Der Soziologe Hans Joas setzt sich mit den Einflüssen des Sakralen in Zeiten rationalistischer Entzauberung auseinander
Felix Dirsch

Max Webers bedeutsame Thesen über den okzidentalen Rationalismus und dessen entzaubernde Konsequenzen, ein Schlüsselkonzept sozial- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung, werden schon seit einiger Zeit intensiv diskutiert. Die Hintergründe für diese neue Konjunktur sind nicht nur wissenschaftshistorisch zu erklären; sie offenbaren darüber hinaus im Kontext der rasanten Neuordnung der Welt ihre Relevanz: Um 1900 fragte man sich hinsichtlich der europäischen Zivilisation, warum sie so imposant aufgestiegen sei und weite Teile der Welt erobern konnte. Im frühen 21. Jahrhundert hat sich die Perspektive umgekehrt: Viele Historiker wollen nunmehr die Gründe für den Niedergang des Westens wissen, ohne jedoch ein pessimistisches Panorama wie Spengler präsentieren zu wollen.

Vor über hundert Jahren konnte Weber noch problemlos auf die Frage nach der Überlegenheit Europas antworten: Die frühe Entzauberung der westlichen Kultur – angefangen von den Propheten des alten Israel über die rationalistische Schubkraft der griechischen Philosophie bis hin zu den purifizierenden, bilderzerstörenden Einflüssen von Teilen der reformatorischen Bewegung – zeigt sich für den Humus verantwortlich, auf dem die Früchte der rationalistischen Kultur wachsen konnten. Zumeist betrachtet man die Entzauberung als maßgebliche Voraussetzung der Säkularisierung in fortgeschrittenen Industriestaaten. Eine wesentliche Bedingung modernen Lebens mit seinen technisch und wissenschaftlich folgenreichen Auswirkungen ist somit scheinbar simpel zu konstatieren.

Frühe Ursprünge eines moralischen Universalismus

Ganz so einfach will es sich Hans Joas aber nicht machen. Der Soziologe, der in den letzten Jahren in seiner Zunft mit aufsehenerregenden Publikationen hervorgetreten ist, etwa über die Sakralität der Person im modernen Menschenrechtsdiskurs und anderen, im weiteren Sinn religionssoziologischen Abhandlungen, gilt als ausgewiesener Kenner des Weberschen Œuvres. 

Eine neue Studie des Honorarprofessors der Berliner Humboldt-Universität, die etliche Vorarbeiten zusammenfaßt, fragt, ob nicht eine nachhaltige „Macht des Heiligen“ die moderne Entwicklung begleite. In den ersten drei Kapiteln des Buches breitet er Gedankengänge dreier Klassiker der Religionskritik aus: David Humes Versuch, religiöse Prägekräfte auf natürliche Weise zu erklären, wird ebenso erörtert wie William James’ Vorgehen, die Religionspsychologie als zentrale Disziplin zur Erforschung der Genese des Glaubens hervorzuheben. Schließlich stellt Joas Überlegungen zur Bedeutung kollektiver Rituale für die Entstehung „höherer“ Religionen an. Mit einem solchen Ansatz erregte Emile Durkheim einst große Aufmerksamkeit. 

In den Bahnen dieser Vorläufer bewegten sich auch Max Weber und der mit ihm persönlich wie auch bezüglich des Fortgangs seines Werks verbundene liberal-protestantische Theologe Ernst Troeltsch. All das wird im vierten Kapitel debattiert. Joas differenziert den vielfältigen Begriff der Entzauberung: Enttranszendentalisierung, Entmagisierung und Entsakralisierung offenbaren unterschiedliche Nuancen dieses fundamentalen Topos. 

In einem eigenen Kapitel geht der Autor auf das vom Namen Karl Jaspers nicht zu trennende Thema „Achsenzeit“ ein, dessen Inhalte schon im 19. Jahrhundert diskutiert wurden. Dieses ausgedehnte Forschungsprogramm bringt vielleicht nicht im engeren Sinn Phänomene der Rationalisierung zum Ausdruck; jedoch verbindet sich damit eine Relativierung des Christentums. In der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends machen sich quer über diverse Kulturen neue Anschauungsformen von Transzendenz, Welt und Mensch bemerkbar, die die Epochen zuvor und danach eindeutig voneinander scheiden. 

Dieses Zeitalter der Menschheitsgeschichte ruft schon seit Jahrzehnten nicht zuletzt deshalb Interesse hervor, weil sich hier Ursprünge eines moralischen Universalismus verorten lassen, die gegenwärtig mehr denn je Wirkungen entfalten. Lesenswert ist ebenso Joas’ Neudeutung von Webers berühmter Passage „Zwischenbetrachtung“ in dessen „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“.

Machtvoller Trend zur Re-Sakralisierung

Joas Arbeiten zum Entzauberungsbegriff, die rund um die facettenreichen Themen Differenzierung, Modernisierung und Rationalisierung kreisen, sind unstrittig verdienstvoll. Aber es ist fraglich, ob sich ein für Joas’ Unterfangen so wesentlicher Autor wie Durkheim eignet, im Zentrum einer alternativen Geschichte zur Entzauberung zu stehen. Sicherlich hat der französische Gesellschaftsdenker zu Recht betont, daß es in der Moderne einen machtvollen Trend zur Re-Sakralisierung gibt, die Joas von Religion grundsätzlich geschieden wissen will; Beispiele sind für Durkheim die Nation, aber auch die Menschenrechte. Allerdings müßten im Rahmen eines solchen großangelegten Projekts andere Denker im Vordergrund stehen: so der – von Joas gleichwohl erwähnte – Eric Voegelin, aber auch Raymond Aron, Carl Christian Bry, Alexander Block und viele andere. Ihre Beiträge sind im Kontext der Analyse von politischer Religion und Totalitarismus immer wieder neu heranzuziehen, um die Dialektik von Entzauberung und Wiederverzauberung zu verdeutlichen. 

Diese Erscheinungsformen der Wirklichkeit sind in der Moderne eng aufeinander bezogen. Dafür liefert bereits die Epoche der Romantik eindrucksvolle Belege. Das 20. Jahrhundert hat eine große Materialfülle hinzugefügt. Die Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts kommen sich diesbezüglich wie Epigonen vor. Joas’ Untersuchung bestätigt diesen Befund weitgehend.

Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017, gebunden, 527 Seiten, 35 Euro