© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Knapp daneben
Distanz zur Konsumgesellschaft
Karl Heinzen

Kommst du nicht klar, sollen wir dir Geld leihen?“ wird Anna Vladi oft von ihren russischen Verwandten gefragt. Was sie von ihr auf Instagram sehen, macht sie besorgt. Auf den Fotos, die sie gemeinsam mit ihrer Freundin Karina Papp unter „Found on the Street“ postet, erweckt sie zwar einen gesunden und zufriedenen Eindruck. Die Kleidungsstücke, in denen sie posiert, hat sie allerdings allesamt auf der Straße gefunden. In den meisten Ländern der Welt, so auch in Rußland, sind es die Ärmsten der Armen, die sich auf diese Weise behelfen müssen. Hätten sie Zugang zum Internet, würden sie sich aber schämen, so etwas auch noch öffentlich einzugestehen. 

Anna Vladi jedoch muß keine Scheu haben, sich zu bekennen. Sie lebt seit fünf Jahren in Berlin und ist so gut in der Konsumgesellschaft des Westens angekommen, daß es sie reizt, zu dieser hin und wieder auf Abstand zu gehen.

Sollten wir ihnen die Enttäuschung, so wie wir zu leben, nicht aus Mitgefühl ersparen?

Dieses Bedürfnis teilt sie mit vielen Menschen, die sich selbst und anderen beweisen wollen, daß Wohlstand ihnen eigentlich nichts bedeutet und sie bloß deshalb nicht auf ihn verzichten können, weil sie ihn dann sogleich wieder erstreben würden. Manche unternehmen den Selbstversuch, wie lange sie sich ohne Geld bei guten Freunden durchschnorren können. Andere teilen mit den Bedürftigen die Freuden der Tafel. Wieder andere treibt es hinaus in die Welt, in exotische Länder, in denen die Infrastruktur noch schlechter ist als bei uns, um durch Hilfe zur Selbsthilfe vor allem sich selbst zu helfen. Wenn sie zurückkehren, haben sie erschütternde Dinge zu berichten: Weltweit sind die Menschen durch den täglichen Kampf ums Dasein absorbiert. Sie arbeiten bis zum Umfallen und haben doch wenig davon. 

In ihrer blinden Fixierung auf materielle Güter können sie kein Gespür für die Fragwürdigkeit des Wohlstands aufbringen. Sie müßten so reich sein wie wir, um sich auf unsere Höhe des Bewußtseins aufzuschwingen. Können wir aber wirklich verantworten, daß sie sich uns zum Vorbild nehmen? Sollten wir ihnen die Enttäuschung, die sie erleben, wenn sie so sind wie wir, nicht aus Mitgefühl ersparen?