© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Kehraus bei Volkswagen
Autoindustrie: Vor 80 Jahren begann die Käfer-Produktion / Wird der VW Tiguan der legitime Golf-Nachfolger?
Hans-Jürgen Hell

Im März präsentierte Matthias Müller auf der Volkswagen-Bilanzpressekonferenz noch Rekordzahlen: Mit 10,7 Millionen weltweit verkauften Autos vor Toyota (10,4 Millionen) erneut größter Autohersteller der Welt – bei 640.000 Mitarbeitern, 230,7 Milliarden Euro Umsatz und einem operativen Ergebnis von 13,8 Milliarden Euro.

Im ersten Quartal hielt der Trend an: Die Kernmarke VW legte um 5,9 Prozent auf 1,5 Millionen Fahrzeuge zu, Audi kam auf 463.000 Auslieferungen (plus 9,8 Prozent), die tschechische Tochter Škoda auf 316.700 (plus 11,7 Prozent) und der spanische Patient Seat vermeldete mit 139.200 Autos (plus 18,7 Prozent) das größte Produktionsvolumen in seiner 68jährigen Geschichte.

Heinrich Nordhoff stand 20 Jahre an der Konzernspitze

Dennoch wurde Müller vorige Woche durch den bisherigen Markenchef Herbert Diess abgelöst. Ob der 59jährige frühere BMW-Manager die VW-Erfolgsgeschichte fortsetzen wird, ist fraglich. Diess’ teure Steckenpferde wie der elektrische BMW i3 oder der eGolf verkaufen sich trotz staatlich-medialer Protektion und Steuerzahlerunterstützung nur in homöopathischen Dosen.

Absatz-Rekorde feiern die politisch inkorrekten SUV-Modelle VW Tiguan und Atlas, der Q7 von Audi, der riesige Škoda Kodiaq, der Seat Ateca oder der Porsche Macan. Der 64jährige Müller stand nur zweieinhalb Jahre an der Spitze und war damit der am kürzesten amtierende Volkswagenvorstandsvorsitzende – der erste Nachkriegschef Heinrich Nordhoff führte den Konzern hingegen zwei Jahrzehnte: ab 1948 als Generaldirektor und nach der Umwandlung zur AG ab 1960 als Vorstandsvorsitzender.

Bis zu seinem Tod am 12. April 1968 brachte der frühere Leiter des Opel-Werks in Brandenburg als „Mister Volkswagen“ den 1937 als NS-Staatsbetrieb gegründeten Autohersteller auf einen nach Kriegsende nie erwarteten Erfolgskurs. Und das mit nur drei Modellen: dem viersitzigen Käfer (der bis 1945 „KdF-Wagen“ und dann bis 1968 offiziell nur „Volkswagen“ hieß), dem davon abgeleiteten VW-Bus und -Transporter (Typ2/„Bulli“) und dem VW 1500/1600 (Typ 3 als Coupé, Limousine und Kombi).

Die Kübelwagen-Versionen der Wehrmacht (Typen 82/87/92/166/287) durften nach Kriegsende nicht mehr produziert werden. Erst mit dem weiterentwickelten Typ 181 (Kurierwagen/Country Buggy) stieg VW 1968 wieder voll ins Geländewagengeschäft ein.

Der vor 80 Jahren erstmals produzierte klassische Volkswagen mit luftgekühltem Boxermotor fuhr mit Nordhoff nach der Währungsreform 1948 von Erfolg zu Erfolg: 1953 wurde die Produktionsmarke von 500.000 Stück überschritten und Kunden in 86 Länder beliefert. Am 5. August 1955 läuft das millionste Exemplar vom Band – inzwischen mit hydraulischer Fußbremse, 30-PS-Motor und größerem Heckfenster. 1957 sind es zwei, 1959 drei Millionen.

Zum fünfmillionsten Exemplar wird 1961 sogar eine Jubiläumsmedaille in Silber und Gold geprägt. Zehn Jahre später erlebte der Käfer seinen absoluten Produktionsrekord: 1.291.612 Exemplare wurden 1971 weltweit hergestellt – mit noch größerem Heckfenster und teilweise mit 50-PS-Motor und Automatikgetriebe. 1972 lief der Käfer Nummer 15.007.034 vom Band und überrundete damit das T-Modell von Ford.

Der Erfolg war so groß, daß der Käfer nicht in Wolfsburg, Emden oder Ingolstadt, sondern seit 1951 auch zunehmend im Ausland hergestellt wurde. Zunächst in Südafrika, dann ab 1959 in Brasilien und ab 1964 in Mexiko. Auch in Australien, Belgien, Bosnien, Costa Rica, Finnland, Indonesien, Irland, Malaysia, Neuseeland, Nigeria, Peru, auf den Philippinen, in Portugal, Singapur, Thailand, Uruguay und Venezuela wurde der Käfer zeitweise montiert. Erst der Erfolg des Golfs und des Passats verdrängte den Käfer von den deutschen VW-Fließbändern: 1974 wurde die Produktion in Wolfsburg und 1978 auch in Emden eingestellt. Nur das 1949 auf den Markt gekommene Cabriolet wurde noch bis Anfang 1980 bei der Wilhelm Karmann GmbH in Osnabrück gebaut. Insgesamt wurden in Deutschland fast 16,3 Millionen VW Käfer hergestellt.

Beetle wird in Deutschland nicht mehr angeboten

In Mexiko erlebte der Käfer dann seinen zweiten Frühling. Bei Volkswagen de México in der zentralmexikanischen Hochgebirgsmetropole Puebla wurde der Käfer weitgehend unverändert bis 2003 hergestellt und bis 1986 sogar noch offiziell nach Deutschland exportiert. Derzeit fahren noch etwa eine Million Käfer auf mexikanischen Straßen, es werden aber auch dort immer weniger, da die Abgasbestimmungen verschärft wurden. Käfermotoren lassen nur den Einbau eines ungeregelten Katalysators zu. In Deutschland sind noch schätzungsweise 50.000 Käfer-Oldtimer vorhanden. Wie viele der insgesamt über 21,5 Millionen jemals produzierten Käfer weltweit noch fahren, weiß niemand.

Das zumindest optische Nachfolgemodell ist hingegen kein Volumen-, sondern eher ein Retro-Spaßmobil auf Golfbasis. Vor zwanzig Jahren als „New Beetle“ auf der Detroit Motor Show erstmals präsentiert, waren die medialen Reaktionen zunächst enthusiastisch. In den USA vom Millionen-Magazin Motor Trend 1999 sogar als „Import Car of the Year“ ausgezeichnet, verkaufte sich das schlichte zweitürige Nischenmodell mit Minikofferraum zunächst überraschend gut. Mit dem Auslaufen des Käfers kam 2003 das New Beetle Cabriolet hinzu.

In den USA wurde das Auto mit Fünf- und Sechszylinder-Benzinern und in Europa sogar mit Dieselmotor angeboten. 2008 wurde die Schwelle von einer Million New Beetle überschritten. Drei Jahre später wurde der Nachfolger „The 21st Century Beetle“ vorgestellt, der rein technisch sicher der beste „Käfer“ aller Zeiten ist. Doch seit 2013 haben sich die Beetle-Produktionszahlen auf 59.483 Stück fast halbiert.

Sie liegen zwar immer noch über denen des eGolf, aber zwischen Liftestyle-Modellen wie dem Mini von BMW und dem Fiat 500 einerseits und der SUV-Welle andererseits wurde der Platz in der Nische für das überteuerte „Hecho en México“-Auto immer enger. Der Stadtgeländewagen Tiguan (769.870 Stück) überrundete 2017 sogar Polo (755.506) und Passat (660.996) und ist den geschwächten drei Golf-Varianten (zusammen 968.284) auf den Fersen. Unter Matthias Müller wurde das Produktionsende des Beetle-Coupés beschlossen und im April nun auch der offizielle Vertrieb des Cabrios in Deutschland eingestellt.

Es sind nur noch Lagermodelle bei VW bestellbar. In den USA ist das Coupé mit Zwei-Liter-Benziner (174 PS) ab umgerechnet 16.500 Euro (netto) noch zu haben. Das Cabrio bleibt dort ab 21.000 Euro vorerst im Angebot. Ein Nachfolgemodell des Käfers und des Beetles ist nicht geplant. Daher dürfte es für den neuen Konzernchef Diess nur eine Frage der Zeit sein, bevor er das endgültige Aus verkündet. Und damit dürfte dann die große Ära eines unvergleichlichen Wirtschaftswunders wohl endgültig zu Ende gehen.

VW-Geschäftsbericht für 2017:  www.volkswagenag.com

VW-Journal Magazin – Die Welt der klassischen Volkswagen:  www.volkswagen-classic.de/