© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Ein ganzes Bündel an Ungereimtheiten
NSU: Auch fünf Jahre nach Eröffnung des Prozesses gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte drängen sich laut dem Blogger „fatalist“ viele Fragen auf
Martina Meckelein

Oberlandesgericht München, Staatsschutzsenat: Seit fünf Jahren wird unter Vorsitz des Richters Manfred Götzl gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte verhandelt. Zschäpe soll Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen sein, die sich angeblich Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nannte. Die beiden anderen Mitglieder hießen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – die Männer sind tot, angeblich ein erweiterter Suizid. Die vier weiteren angeklagten Männer sollen das Trio unterstützt haben.

Der rechtsextremistische NSU soll unerkannt von den Staatsorganen über 13 Jahre kaltblütig und professionell zehn Menschen im ganzen Bundesgebiet erschossen und durch drei Bombenanschläge 23 verletzt haben. Bei 15 zumeist brutalen, aber eher fahrig durchgeführten Raubüberfällen, meist in der Nähe ihres Wohnortes, sollen sie angeblich 600.000 Euro erbeutet haben. Auch dabei wurden Menschen verletzt, mindestens ein Bankangestellter lebensgefährlich.

Wer sind die Opfer, wer die Täter? Wer kennt wen?

Zur Zeit sollten die Verteidiger die Plädoyers halten – vertagt, wegen Befangenheitsanträgen. Richter Götzl hat vorsichtshalber weitere Verhandlungstage bis 2019 terminiert. Kein billiger Prozeß: bis 11. April 417 Verhandlungstage, geschätzte Kosten: bisher 62,5 Millionen Euro.

Die dem sogenannten NSU vorgeworfenen Taten sind nicht beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik. Von 1967 bis 1989 ermordeten Titos Killerkommandos mit Wissen der bundesrepublikanischen Behörden und Politiker mindestens 29 Exil-Kroaten. Von 1970 bis 1993 entführten, bombten und schossen sich die Mitglieder der linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) quer durch Deutschland. Bilanz: 33 Morde, 200 Verletzte. Dazu als Solitär das Oktoberfestattentat 1980 in München. 13 Tote, 211 Verletzte. Der Täter: Angeblich ein rechtsextremer 20jähriger – seine Alleintäterschaft wird bis heute angezweifelt.

Sehr viele Ungereimtheiten in der Terrorhistorie der Bundesrepublik Deutschland. Einer, der Zweifel anmeldet, nennt sich im Internet „fatalist“. Seinen wahren Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Nach eigenen Angaben ist er ein deutscher Diplom-Ingenieur, geboren in Köln, aufgewachsen in Hannover, geschieden, vier Kinder. Er wohne in Phnom Penh.

„fatalist“ veröffentlicht seit 2014 Teile der Ermittlungsakten des NSU-Falles. „Es sind Zehntausende von Seiten“, sagt er im Gespräch mit der JF.

„fatalist“ und der Arbeitskreis zweifeln die Ermittlungsergebnisse der deutschen Staatsorgane an. Die JUNGE FREIHEIT fragte ihn, warum. „Die Skepsis begann im November 2011, als ich ein Interview mit dem Chef des Bundes der Deutschen Kriminalbeamten las.“ 

Am 13. November 2011 veröffentlichte der BDK eine Presseerklärung. Der Bundesvorsitzende André Schulz wird dort wie folgt zitiert: „Mutmaßungen sind in so einem Ermittlungsfall fehl am Platze, aber es verwundert schon sehr, wie schnell sich die Bundesanwaltschaft nach der Explosion des Hauses in Zwickau und dem Auffinden der Leichen der beiden Täter zur Gruppierung der Täter festgelegt hat und wie schnell über zwei Dutzend Aktenordner mit Erkenntnissen über die Täter präsentiert werden konnten. Hier bin ich sehr auf die Ermittlungen, speziell zur Rolle des Verfassungsschutzes, gespannt.“

 Schulz spielte damals auf die angeblich von Beate Zschäpe in Brand gesetzte gemeinsame Wohnung in Zwickau an, nachdem Böhnhardt und Mundlos in Eisenach in dem Wohnmobil tot aufgefunden worden waren.

„Ich war damals schon nicht mehr in Deutschland, befaßte mich aber seit einigen Jahren mit dem Buback-Mord und dem Oktoberfest-Attentat auf politikforen.net. Damals war auch Georg Lehle dabei (Anm. d. Red.: Er betreibt den Blog „friedensblick“). Eigentlich waren da jede Menge Reporter und Leute, die sich beruflich mit solchen Themen befaßten.“

Drei Jahre später, 2014, stellte „fatalist“ einen eigenen Blog ins Netz. „Da habe ich einen Monat lang meine früher gesendeten Links und Kommentare zusammengefaßt“, erinnert er sich. „Irgendwann meldete sich jemand bei mir und meinte, da seien ja viel zu viele Fehler drin. Er wolle mir da helfen. Über Kim.com Megaupload und Fake-E-Mail-Accounts schickte er mir um die 10.000 Seiten aus polizeilichen Ermittlungsakten. Ende Juni 2014 begann ich sie teilweise zu veröffentlichen.“

Der NSU-Fall ist verwirrend. Wer sind die Opfer, wer die Täter? Wer kennt wen? Wer ist Nazi? Wer ist Spitzel? Welche Waffen wurden von wem gekauft? Wieso brennt das Geld aus Banküberfällen nicht ab? Wieso wurden Akten geschreddert? Wem kann man bei der Aussage vertrauen?

„Im Grunde gibt es drei Komplexe, an denen man festmachen kann, daß an der Geschichte, so wie sie uns seit Jahren in den Medien und im Gericht dargestellt wird, etwas nicht stimmen kann“, sagt „fatalist“. „Da wäre als erstes das Ende des NSU – der Tatort in Eisenach.“

Am 4. November 2011 brennt ein Wohnmobil in Eisenach-Stregda. Anwohner alarmieren die Polizei. Zwei Polizisten gehen auf den Camper zu. Sie hören Knallgeräusche, dann schlagen Flammen aus dem Wagen. Die alarmierte Feuerwehr löscht. Im Auto werden zwei Leichen entdeckt.

„Notärzte und Sanitäter werden nicht rangelassen“

„Notärzte und Sanitäter werden allerdings nicht rangelassen“, sagt „fatalist“. „Dabei wäre es doch normal gewesen zu schauen, ob die tot sind. Die Feuerwehr macht Fotos, die ihr von der Polizei abgenommen werden. Wußte die Polizei schon vorher, daß sie tot sind?“ Später wird der zum Teil ausgebrannte Camper abgeschleppt. „Auf einer Rampe, davon gibt es noch Fotos. So zerstört man den kompletten Tatort für die Spurensicherung. Der Camper steht dann in der Halle einer Abschleppfirma – ungesichert. Der Tatort ist meines Erachtens komplett inszeniert“, sagt er. „Da werden volle Patronen als leere Hülsen ausgegeben. Vor der einen Leiche liegt eine nachgeladene Pumpgun – ein Toter kann keine Pumpgun nachladen. Dann die Rußlungenlüge. Angeblich soll Mundlos erst Böhnhardt erschossen haben, dann Feuer gelegt und sich anschließend selbst erschossen haben. Nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung hatten aber beide Tote keinen Ruß in der Lunge und normale Blutwerte. Dann die Anwohner, die einen Mann aus dem brennenden Auto haben weglaufen sehen – wo ist der? Auf den aufgefundenen Banknoten vom Sparkassenüberfall waren keine Fingerabdrücke der Toten. Auf dem Funk-Scanner, um den Polizeifunk abzuhören – keine Fingerabdrücke. Wenn die beiden den Polizeifunk abgehört haben – dann hätten sie doch wissen müssen, daß keine Gefahr mehr bestand, weil die Ringfahndung um 11.15 Uhr aufgehoben worden war. Zu guter Letzt: Wo ist die Hirnmasse? Die fehlt. Doch der Tatort oder auch Leichenfundort und die gesamte Auffindesituation spielten vor Gericht keine Rolle, um so mehr in den Untersuchungsausschüssen. Dort gibt es allerdings auch keine Aufklärung.“

Der zweite wesentliche Tatort ist der in Kassel. Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen – angeblich vom NSU. „Das ist doch total irre. Damals waren fünf Zeugen in dem Café. Einer davon war Andreas T., ein Verfassungsschützer. Keiner der Zeugen will die zwei Schüsse gehört haben. Andreas T. will den hinter dem Tresen im Sterben liegenden jungen Mann nicht gesehen haben, als er ging. Der Verfassungsschützer sagte aus, daß er einfach das Geld auf den Kassentresen legte. Der Mann ist rund 1,90 Meter groß. Völlig unglaubwürdig. Und jetzt kommt es: Alle Akten zu dem Fall haben eine Sperrklausel von 120 Jahren.“

Wer sonst kann ein Interesse gehabt haben, zu töten?

Auf ihrer Seite im Internet schreibt die hessische SPD-Landtagsabgeordnete Nancy Faeser: „Der Fall T., in dem es zu klären gilt, ob ein Verfassungsschützer in den Mord an Halit Yozgat beteiligt war, beschäftigt uns weiterhin. Der Verfassungsschutz selbst hat mit der Sperrung der Akte für die nächsten 120 Jahre eindrücklich bewiesen, warum es wichtig ist, daß der Aufklärungsprozeß fortgesetzt wird.“

Interessant in dem Zusammenhang ist, daß die damaligen Innenminister von Thüringen und Hessen, Karl Heinz Gasser und Volker Bouffier nicht nur Parteifreunde, beide CDU, sondern auch Kanzleikollegen in Gießen waren.

„Als dritten Punkt nenne ich den Mord an Michèle Kiesewetter und den versuchten Mord an ihrem Kollegen in Heilbronn. Da gibt es keine Spuren der beiden Uwes am Tatort. Aber dafür findet man vier Jahre später Kiesewetters Blut auf einer Jogginghose von Mundlos in der ausgebrannten Wohnung in Zwickau. Allerdings seien die Blutspritzer nicht typisch für den Schützen, sondern für jemanden, der daneben stand.“

„fatalists“ Bilanz: „Wir glauben im Arbeitskreis, daß die Behörden seit 1998 darüber informiert waren, wo die drei sich aufhielten. Es gibt ein NSU-Axiom – entweder wurden die zehn Morde mit Wissen der Behörden durch den NSU begangen, oder die waren es nicht. Und dann ist die Frage: Wer war es dann? Und dann muß man sich wieder die Opfer anschauen. Wer könnte sonst ein Interesse gehabt haben, sie zu töten? Die kurdisch-extremistische PKK, die nationalistischen türkischen Grauen Wölfe oder ein Geheimdienst?“

Am 6. April sollte zum Todestag von Halit Yozgat eine Gedenkveranstaltung abgehalten werden. Die Stadt Kassel sagte sie ab. Die Begründung laut Frankfurter Rundschau: „Hintergrund sind antitürkische Proteste und Straftaten gegen türkische Einrichtungen in Deutschland. Am Sonntag hatte es in Kassel einen Brandanschlag auf ein türkisch-islamisches Kulturzentrum gegeben.“





Kritik an „fatalist“

In den meisten Medien wird der „fatalist“ als rechtsextremer und islamfeindlicher  Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Kritiker werfen dem Blogger Einseitigkeit und gezielte Desinformation vor. So zum Beispiel der Journalist und NSU-Buchautor Thomas Moser. Er würde darüber hinaus die Opfer der Anschläge im kriminellen Milieu verorten. Das antifaschistische Magazin Der Rechte Rand behauptet, „fatalist“ stelle den NSU als eine Erfindung des Verfassungsschutzes dar. Außerdem habe „fatalist“ Kontakte in rechtsextremistische Kreise. Der Blogger Georg Lehle (friedensblick) sieht „fatalist“ zwar kritisch (Dezember 2014), der Arbeitskreis NSU bestünde aber „zum Großteil aus honorigen Menschen“. Lehles Bilanz: „Egal, was hinter ‘fatalist’ wirklich steckt, der entscheidende Punkt ist: Die Ermittlungsakten sind echt, und sie widerlegen die Darstellungen der Bundesanwaltschaft.“

 http://arbeitskreis-n.su/blog

 http://friedensblick.de