© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Pankraz,
Reinhard K. Sprenger und die echte Moral

Einen hübschen großen Stein hat jetzt Reinhard K. Sprenger ins Wasser der aktuellen Moraldiskussion geworfen, wo er hoffentlich lebhafte Kreise ziehen wird. In einem Aufsatz für die Neue Zürcher Zeitung behauptet er schlichtweg, wir brauchten im Grunde gar keine Moralphilosophien, Tugendlehren oder Gebotstafeln, diese störten nur, „echte Moral“ ergebe sich im gesellschaftlichen Leben „wie von selbst“, jeder richte sich spontan  danach, ohne extra belehrt werden zu müssen.

Schwerstes Geschütz fährt Sprenger gegen aktuelle Moralapostel auf, die tagtäglich von  Nachhaltigkeit oder Solidarität schwafelten, aber doch nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien. Zitat Sprenger: „Sie gießen ihre Interessen einfach in ‘Werte’ um. Dadurch verschleiern sie persönliche Vorteile und veredeln ihre Sozial-Imperative mit dem Glanz allgemeiner Zustimmung. Das immunisiert. Interessenkonflikte ließen sich ja aufklären und ausgleichen; Wertekonflikte kann man nur konstatieren. Will man sie lösen, muß man den anderen eliminieren. Das erklärt die Aggressivität der Moralisierer.“

Reinhard K. Sprenger (64) ist nicht irgendwer, er gilt als einer der besten Kenner des Managerwesens in aller Welt und ist in Universitäten ebenso zu Hause wie in Führungsetagen von Industriekonzernen, internationalen Sportorganisationen oder nationalen Ministerien und Bürokratien.

Längere Zeit arbeitete der geborene Essener als Referent beim Kulturministerium des Landes Nordrhein-Westfalen;  seine Bücher, so etwa die Bände „Mythos Motivation“ oder „Das Prinzip Selbstverantwortung“ erreichten sagenhafte Auflagenzahlen und gelten mittlerweile als klassische Ratgeber für erfolgreiches Management in allen Lebenslagen.

Man kann schon verstehen, daß Führungspraktiker vom Format Sprengers regelrecht angeekelt werden, wenn sie die moralisierenden Großkolumnisten dauernd von „unseren Werten“ schwafeln hören. Sprenger weiß genau (und spricht es aus): Der „Wert“ ist gar keine genuin moralische Kategorie sondern eine ökonomische. Er stammt aus dem Marktgeschehen und dem Tauschhandel, er suggeriert, daß moralische Grundsätze gegen irgend etwas anderes eingetauscht werden können, etwa für Geld oder Kolumnistenmacht. Sein Ziel ist nicht das tugendhafte, gottgefällige Leben, sondern die sogenannte Nützlichkeit.

Trotzdem, findet Pankraz, ist Sprenger und seiner „echten Moral“, die sich angeblich von selbst regelt und keiner speziellen Morallehren bedarf, frontal zu widersprechen, und zwar gerade aus der Einsicht heraus, daß exklusives Denken in Werten nichts weiter als schlichtes Nützlichkeitsdenken ist, nur feierlich aufgezäumt und letztlich ziemlich verlogen. Der Mensch ist aber kein bloßes Nützlichkeitstier, kein bloßes Naturwesen. Es gibt etwas, das ihn darüber hinaushebt – sofern er sich seiner schwierigen Privilegiertheit bewußt wird.

Das war freilich nicht leicht zu lernen, und deshalb bei allen Völkern von Anfang an die Gebotstafeln, die Gesetzesbücher, die Tugendlehren. „Tugendhaftigkeit vor Wertedenken“ war die Devise, nicht zuletzt die ganze abendländische Geistestradition ist davon geprägt. Sokrates hat sich geradezu den Mund fusse-

lig geredet, sich buchstäblich um Kopf und Kragen gepredigt, um seinen Schülern beizubringen, daß die Tugend ihren Lohn in sich selbst habe, daß keine andere Form von (vorgeblicher) Glückseligkeit diesen Lohn der Tugend, dies Anständigbleiben, diese Einhaltung des Sittengesetzes, je aufwiegen könne.

Aristoteles lehrte wenig später, daß die Tugenden keineswegs nur einen praktischen Wert hätten, sondern auch und vor allem einen „dianoetischen“, daß sie also vorrangig nicht auf Glück und Nützlichkeit ausgerichtet seien, sondern auf gesellschaftliche Balance, daß sie von Haus aus dazu verpflichteten, sich für das Gemeinwesen verantwortlich zu fühlen und nicht primär danach zu fragen: „Was bringt mir das?“

Tugenden sind keine Gesetze, das heißt, man wird nicht gezwungen, sich ihnen zu unterstellen, sie sind das Element der Freiheit im ethisch-moralischen Netzwerk. Aber nicht nur Aristoteles, sondern im Grunde alle ernsthaften Nachdenker und Politiker bis hin zu Kurt Schumacher und Konrad Adenauer waren sich darüber im Klaren, daß ein Gemeinwesen, das nur aus zeitbedingten Gesetzen besteht und nicht auch aus praktizierter Tugend, à la longue zum Tode verurteilt ist, allmählich verfaulen muß.

Die Verwandlung der Tugenden in „Werte“ durch die modernen Politiker verwischt diesen Tatbestand und erleichtert das Geschäft der Halunken und Dünnbrettbohrer. „Werte“ sind viel leichter zu blamieren als Tugenden, weshalb ja auch Nietzsche wohlweislich nicht von der „Umwertung aller Tugenden“, sondern von der „Umwertung aller Werte“ sprach. Die Tugend (die „virtù“, wie er sie renaissancehaft nannte) wollte er nicht umwerten, weil sie, wie er genau wußte, gar nicht umgewertet werden kann.

Und sie kann nicht umgewertet werden, weil sie eben überhaupt nicht bewertet, überhaupt nicht in ein auswärtiges Wertesystem eingeordnet werden kann. Wenn Ernst Jünger in seinem Tagebuch „Siebzig verweht“ darüber klagt, daß heutzutage allenthalben „Werte in Ziffern“ verwandelt würden, so greift das zu kurz. Werte sind identisch mit Ziffern, behandeln Qualität als Quantität, machen sie flüssig und austauschbar. Bei der Tugend hingegen, der „virtù“, ist das nicht der Fall. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Ein „bißchen“ Tugend, ein Viertel oder ein Achtel, ist ebenso undenkbar wie ein Viertel oder ein Achtel Schwangerschaft.

Hat Sprenger mit seiner „echten Moral“ vielleicht doch nichts anderes als die Tugend gemeint? Dann wäre ihm viel Zustimmung gewiß. In der Tat, kein noch so raffiniertes wirtschaftliches oder politisches Management inklusive Herumspielen mit Zahlen und Quantitäten kann auf Dauer erfolgreich sein, wenn es – oben wie unten – an der echten Moral, an Tugend und Anständigkeit aller Beteiligten mangelt.