© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Die zweite Erschaffung der Welt
Metamorphosen der Antike: Eine Ausstellung im Frankfurter Städel-Museum zeigt die geniale Fähigkeit des flämischen Barockmalers Peter Paul Rubens, überlieferte Stoffe neu zu interpretieren
Felix Dirsch

Das kreative Plagiat besitzt eine lange Geschichte im Abendland. Große Meisterwerke ragen öfters deshalb heraus, weil es ihren Autoren gelang, sich dichterisches und künstlerisches Material neu anzueignen. Goethes Faust-Poesie ist ein exzellentes Beispiel dafür.

Der einer situierten Patrizierfamilie entstammende Barockstar Peter Paul Rubens lernte bereits während seiner Ausbildung als Maler, die Werke anderer Künstler zu kopieren. Aus seiner frühen Zeit zeugen Zeichnungen und druckgraphische Erzeugnisse davon, etwa Federzeichnungen nach Hans Holbeins „Totentanz“. Freilich verstand es Rubens immer, durchaus erkennbare Abänderungen gegenüber dem Original vorzunehmen. „Copy & Paste“ im Zeitalter vor Gebrauch des Computers sozusagen, allerdings damals noch anspruchsvoller als im maschinellen Zeitalter.

Graphische Vorlagen und Skulpturen studierte der gebildete Künstler, der über einen größeren Fundus an Büchern und über eine umfangreiche Kupferstichsammlung verfügte und mit bedeutenden Zeitgenossen wie Galileo Galilei in Briefkontakt stand, akribisch. Bevorzugte Objekte seiner Musterung waren Figuren mit auffallend menschlichen Emotionen und mit der sprichwörtlichen üppigen Körperfülle.

Ein Künstler, an dessen Produktion Rubens sich besonders abarbeitete, war Tizian. Andere seiner Vorbilder stammten ebenfalls aus der Renaissance, etwa Michelangelo. Von ihnen übernahm er vornehmlich das genaue Studium des menschlichen Körpers und seine detailgetreue Nachahmung.

Die Rubens-Ausstellung „Kraft der Verwandlung“ mit ihren 120 Objekten (Malerei, Zeichnung, Druckgraphik, Skulptur und Werke angewandter Kunst), auf zwei Etagen im Städel-Museum zu sehen, ist nun auch in der Bundesrepublik angekommen. Vor einigen Monaten erfreute sie noch das Wiener Publikum. Die Resonanz war enorm. Leider sind einige Exponate hier nicht mehr zu bewundern. Die prächtigen Ölgemälde „Wunder des Heiligen Ignatius von Loyola“ und „Die vier Paradiesflüsse“, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind nicht aus der österreichischen Hauptstadt angereist.

Gegenentwurf zur Renaissance-Perspektive

Auch die aktuelle Schau zeigt hervorragend, wie sich Rubens antike Werke angeeignet hat. Sie stellten jenes Material dar, das sich für Metamorphosen ideal eignete. Auf einer Studienreise nach Italien fertigte er von berühmten Skulpturen, etwa dem Torso Belvedere oder der Laokoon-Gruppe, eine Reihe von Zeichnungen an, die ihm wiederum als Vorlagen für einige seiner Ölgemälde dienten. So übertrug Rubens auf den Christus-Körper im Bild „Ecce Homo“ (1612), um ein markantes Beispiel zu erwähnen, jene Züge, die ihm an antiken Statuen besonders aufgefallen waren. Viele Details der muskelbepackten Marmoroberkörper wurden im wahrsten Sinn des Wortes ins Bild gesetzt. 

Die genaue Betrachtung dieser Transformationen verrät etwas von der Komplexität der Bildkompositionen, die bei Rubens immer wieder hervorgehoben wird. Stichworte, die bei der Interpretation seiner Werke wiederholt von kunsthistorischen Deutern ins Spiel gebracht werden, lauten: Ambivalenz, Verdichtung, Sprünge und divergierende Richtungen, Verschiebungen und Auflösung sowie bewußte Verunklärung der Motive. In Rubens’ Pracht des Phantasievoll-Lebendigen zeigt sich der barocke Gegenentwurf zur exakt konstruierten Renaissance-Perspektive. Malerische statt rationale Komposition, so könnte man die Unterschiede zuspitzen.

Die Körperlichkeit der großen, oft nackten Figuren gilt heute üblicherweise als Augenschmaus, der Kunstinteressierte in die (stets gut besuchten) Rubens-Ausstellungen treibt. Doch setzt sich die aktuelle Präsentation auch mit zeitgenössischen Einwänden gegen solche als freizügig empfundenen Darstellungen auseinander. Sie ließen sich mit damaligen Moralvorstellungen nur schwer vereinbaren und waren nur dann zu rechtfertigen, wenn biblische oder mythologische Gründe angegeben werden konnten.

Auch in diesem Zusammenhang gilt Rubens’ Grundsatz: keine Nachahmung (imitatio), sondern aemulatio (Verbesserung) der Vorlage. Dies förderte einen fruchtbaren Wettbewerb zwischen den Künstlern, denn es ging darum, den Verehrten zu überbieten.

Den Medusa-Mythos setzte er variiert um

Rubens’ herausragende Stellung erkannten schon die Zeitgenossen. Als gewiefter Geschäftsmann beschäftigte er in seiner großen Werkstatt auch Spezialisten, so den flämischen Maler und Fachmann für Stilleben Frans Snyders. Dieser besorgte etwa die Adler-Darstellung in Rubens’ „Prometheus“-Gemälde.

Besonders heftige Reaktionen rief sein Gemälde „Haupt der Medusa“ (1617/18) hervor. Die diesem Bild zugrundeliegende, aus der griechischen Mythologie stammende Erzählung, die Rubens variiert umsetzte, wird von mehreren Autoren des Altertums überliefert, unter anderem von Ovid: Das prachtvolle Haar der im Minerva-Tempel entehrten Gorgone wird in giftige Schlangen verwandelt. Der Held Perseus schafft es, Medusa das Haupt abzuschlagen. Rubens’ Talent fasziniert auch in diesem Kontext. Die Schlangen sind naturalistisch-präzise wiedergegeben, andere giftige Tiere wie Feuersalamander, Spinnen sowie ein Skorpion haben mit dem ursprünglichen Mythos nichts zu tun. 

Zwar fanden in den letzten Jahren etliche Rubens-Ausstellungen statt, von „Rubens und die Frauen“ über „Rubens und die Landschaft“ bis zu „Rubens und sein Vermächtnis“. In der aktuellen Schau sind die Fähigkeiten des überbordend Kreativen jedoch wie in kaum einer anderen zu bestaunen. Obwohl der Meister die strengen normativen Vorgaben seines Zeitalters, etwa die hierarchischen, penibel beachtet, schafft sich seine Genialität so viel gestalterischen Freiraum, daß die idiosynkratisch-humanistischen Impulse zeitlos werden und selbst in unsere Epoche hereinragen. Mit Recht jubilierte die Kritik. Sie sprach von einer „Fülle der intellektuell sprühendsten Werke“, „die die Kunstgeschichte überhaupt zu bieten“ habe (Stefan Trinks). Diese Ausstellung im Städel wird einem breiten Publikum lange in Erinnerung bleiben.

Die Rubens-Ausstellung ist bis zum 21. Mai im Städel-Museum, Schaumainkai 63, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do./Fr. bis 21 Uhr, zu sehen. Tel.: 069 / 60 50 98-200

Der Katalog (Hirmer-Verlag) mit 312 Seiten und 304 farbigen Abbildungen kostet im Museum 39,90 Euro, ein Begleitheft 7,50 Euro.

 www.staedelmuseum.de