© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Morgenröte im Klub der Sechsjährigen
Kindheit: Die norwegische Dokumentarfilmerin Margreth Olin zeigt das Treiben in einem abgelegenen Waldkindergarten
Sebastian Hennig

Die norwegische Regisseurin Margreth Olin (48) will ihren Film „Kindheit“ als einen stillen Protest verstanden wissen. Sie fühlt sich der Doktrin des Direct Cinema verpflichtet. Auch die Ästhetik des Dogma-Manifests von Lars von Trier und Thomas Vinterberg nennt sie als wichtige Anregungen. Für gute Regisseure werden dergleichen Normen lediglich zum Anhaltspunkt dienen.

Im vorliegenden Fall entsteht sogar ein reizvoller Rückkopplungseffekt. Denn bei einem Dokumentarfilm über das Treiben in einem Kindergarten führt die streng kommentarlose Wiedergabe der Ereignisse gerade zu einem besonders lieblichen und friedvollen Eindruck. Da sehen wir die plappernden und stolpernden Kinder, begleitet jeweils von einem Erwachsenen, der ihnen assistiert. Die eingepackten Kerlchen und Mädchen dampfen still in der Morgenkühle des Waldes vor sich hin. 

Die  Regisseurin hat zuvor Filme über ein Altersheim und eine Schulklasse gedreht. Die Richtung ihres Protests zielt also diesmal auf eine visuelle Wahrnehmungsverstärkung für die Stille. Daß ihr das auch gelingt, dafür garantieren die Darsteller. Die Kinder umgibt zudem eine gemäßigte Wald- und Heidelandschaft. Die Bäume, Wiesen, Hügel und Steine geben ihrem Treiben den milden Resonanzraum. Da können zwei Jungen sich durch verbale Gemeinheiten übertreffen. Die Behauptungen „Ich mache gern Sachen kaputt“ und „Ich bin sehr geldgierig“ werden vom Anblick der beiden Knaben Lügen gestraft. Sie sitzen da mit glühenden Backen und leuchtenden Augen, weil sie den ganzen Vormittag im Freien verbracht haben.

Drehort ist ein Waldorf-Kindergarten mit dem Namen Aurora. Ausschlaggebend war nicht das pädagogische Profil der Einrichtung. Ganz pragmatisch ergab sich der Drehort aus der Tatsache, daß dort ohne Umstände und Einschränkungen das Filmen möglich war.

Erzieherin: „Das entscheidest du nicht!“

Der naturgemäß undramatische Film hat aber auch seine Längen. Olins Anspruch, das Aufgehen menschlicher Morgenröte „ohne verquere Vorstellungen von frühkindlicher Bildung“ zu beobachten, ist nun selbst eine verquere Vorstellung. Die übertriebene Betreuung erledigt sich in diesem Alter meist von selbst, da die Kinder in aller Regel bei Überforderungen bald abschalten und sich ihre Freiräume dann mit einiger List selbst zu erobern wissen. Die Begleiter im Film sind eben nur raffinierter in ihrer Einflußnahme. Gerade ihre Zurückhaltung läßt den Wirkungsgrad der minimal-invasiven Eingriffe ansteigen.

Genaugenommen gibt es sogar viel mehr Riten und Förmlichkeiten als sonst. Der Erzieher Kristofer bricht mit dem Klub der Sechsjährigen in den Wald auf, um Stöcke zu ernten für die Herstellung von Steckenpferden. Spielerisch werden die Stecken dann ins Haus geschmuggelt. Eigentlich ist alles vorgegeben. In den letzten Jahrzehnten zog eine ganze Herde solcher angeblich selbstgebastelten Steckenpferde mit braunen Sockenköpfen von Skandinavien kommend bis an den Bodensee durch ganz Deutschland. Eigener sind da schon die kleinen totemartigen Skulpturen, die den Waldboden in unregelmäßigen Abständen dort überziehen, wo die kleine Herde für einige Stunden von Kristofer gehütet wurde.

Warum man die Erziehungssituation nach diesen anderthalb Stunden mit ganz anderen Augen sehen sollte, ist nicht nachzuvollziehen. Ohne klare Ansagen ist auch ein Waldkindergarten nicht durchführbar. Denn es wollen natürlich immer alle zugleich und die ganze Zeit auf der Schaukel sitzen, die in dem kleinen Unterstand aufgehängt ist. Also nähert sich langsam und zunächst unbemerkt die Erzieherin an, um bei Anfällen von Selbstherrlichkeit mäßigend einzugreifen und unwidersprochen festzustellen: „Das entscheidest du nicht!“

So ist eigentlich alles ganz normal geblieben seit Friedrich Fröbels erstem Kindergarten von 1840 in Bad Blankenburg. Außer vielleicht, daß die Erwachsenen inzwischen süchtig geworden sind nach der stillen Bestätigung, die in der Anwesenheit der Kinder liegt, die heute nicht mehr so selbstverständlich ist und wie ein kostbares Gut offeriert wird.

Am Ende des Films verabschieden sich einige der Kinder recht unbefangen aus der Aurora in die Schulzeit. Ihren Erziehern geht das sichtlich nahe. Offenbar haben sie einen Lebenssinn aus ihren Schutzbefohlenen gesogen. 

Kinostart 19. April 2018

 http://kindheitderfilm.de