© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

„Sind Ihre Politiker darauf vorbereitet?“
Wir stehen an der Schwelle zur Cyber-Welt. Wer da den Anschluß verpaßt, der verpaßt die Zukunft, warnt der schwedische IT-Experte Mats Lewan, dessen Vaterland zu den digitalen Vorreitern in Europa gehört
Moritz Schwarz

Herr Lewan, können wir in Stockholm heute schon das Morgen besichtigen?

Mats Lewan: Oh, das geht wohl etwas zu weit. 

Aber Ihre Hauptstadt gilt als die europäische Kapitale, in der die Digitalisierung am weitesten fortgeschritten ist. 

Lewan: Nun, manche behaupten das auch von Dänemark oder Estland. Aber richtig ist, in Europa ist Schweden weit vorne mit dabei. Das liegt unter anderem daran, daß wir eine gut organisierte Gesellschaft haben und daß der Schwede wohl eine etwas lösungsorientiertere Einstellung hat und offener gegenüber neuer Technik ist als etwa der Deutsche. 

Ist das so? 

Lewan: Ich meine, ja. Und wenn Sie fragen warum: Schweden ist mit nur zehn Millionen Einwohnern viel kleiner als etwa Deutschland, was es einfacher macht, die ganze Gesellschaft in den Wandel einzubeziehen. Außerdem pflegen wir eine ausgeprägte Konsenskultur. Das bedeutet, die Schweden sind sich in hohem Maße einig, während anderswo vielleicht mehr über Modernisierungsvorhaben gestritten wird. Obwohl es natürlich auch bei uns eine Debatte zwischen jenen gibt, denen es nicht schnell genug gehen kann und jenen, die eben davor warnen. Nehmen Sie als Beispiel die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs – Schweden ist bereits fast ein bargeldloses Land. Und genau das ist eine der großen Herausfordungen, vor die uns die Digitalsierung alle stellt. 

Was genau meinen Sie?

Lewan: Na die Spaltung der Gesellschaft! Sie ist eine der großen Gefahren im Zuge der Digitalisierung. Und kleinere Länder mit eher einiger Gesellschaft können diese besser vermeiden als große, heterogenere Gesellschaften. 

Wo droht diese Spaltung? 

Lewan: Tatsächlich bedroht die Digitalisierung vor allem die Mittelklasse – zumindest solange es noch keine Roboter gibt, die kellnern oder Haare schneiden können oder der Paketdienst ganz von Drohnen übernommen wird. Denn es sind ihre Jobs, die zuerst wegfallen. Es muß aber nicht so kommen; doch es wird so kommen, wenn Ihre Politiker nicht darauf vorbereitet sind. 

Sind Sie das?

Lewan: Das frage ich Sie, Sie sind der Deutsche. Ich bin Journalist für Digitalisierung, ich schreibe darüber und werde auch viel für Vorträge zu diesem Thema gebucht und ich kann Ihnen sagen, daß Politiker allgemein dazu neigen, Veränderungen, die ein Potential bergen, sich auf für die Gesellschaft schmerzhafte Weise zu vollziehen und den Bürgern also Angst machen, lieber totzuschweigen – um bloß keine schlechte Stimmung unter den Wählern aufkommen zu lassen. Dabei ist das fatal, denn so kann Modernisierung verpaßt werden. Deshalb sollten Sie, die deutschen Medien, dafür sorgen, daß Ihre Öffentlichkeit die Debatte darum führt – damit die Politik in Ihrem Land sie nicht aussitzen kann und verpaßt. Denn dann wird die Digitalisierung sich unkontrolliert vollziehen und unweigerlich zur ernsten Beschädigung Ihrer Gesellschaft in Gestalt einer Spaltung führen.  

Aber führt nicht gerade diese Debatte zu jener Polarisierung, von der Sie anfangs sagten – Stichwort „Konsensgesellschaft“ –, daß gerade sie ein großes Hemmnis für die Digitalisierung sei?

Lewan: Das stimmt auch wieder – es gibt eben keine perfekte Lösung. Aber besser, die Debatte spaltet Ihre Gesellschaft, als später die sozialen Folgen. Ich bin wirklich keiner dieser schwedischen Sozialdemokraten, aber ich erkenne, daß in deren Solidaritätsgedanke etwas Wertvolles steckt, um die Gesellschaft angesichts dieser Herausforderung zusammenzuhalten. 

Droht außer der sozialen Spaltung nicht auch die zwischen den Jungen, die sich in der neuen Welt zurechtfinden und den Alten, die an der Gesellschaft, die sich ins Digitale verlegt, nicht mehr teilhaben können – einfach weil sie die Endgräte nicht bedienen können?

Lewan: Diesbzüglich mache ich mir viel weniger Sorgen, denn die Technologie entwickelt sich rasch, inklusive stetiger Vereinfachung der Bedienung. Ein bedeutender Faktor dabei wird die Sprachsteuerung sein. Und sobald die Geräte verläßlich auf diese Weise mit uns kommunizieren, ist diese Hürde genommen. Auch ältere Menschen, für die heute eine Tatstatur noch etwas so Unüberwindliches wie ein Gartenzaun sein mag, werden dann problemlos an der digital organisierten Welt teilhaben können. Ja, ich glaube sogar, daß das für viele ältere Menschen eine Art Erlösung sein wird, sich von sprechenden Maschinen, statt von Menschen helfen zu lassen. Diese werden nämlich nie ungeduldig mit ihnen und nehmen sich die Zeit, die Ältere für ihre Verrichtungen brauchen. Und Ältere werden ihnen gegenüber auch nie ein schlechtes Gewissen haben, wie sie es manchmal gegenüber Menschen haben, weil sie glauben, diese mit ihrer Hilfsbedürftigkeit zu belasten.

Wenn einheitliche Gesellschaften tatsächlich wichtig für das soziale Bestehen der digitalen Herausforderung sind, haben wir weltweit allerdings große Probleme – denn die wenigstens Staaten sind das, nicht einmal im Westen: Großbritannien oder die USA sind es traditionell nicht, wegen ihrer freiheitlichen Sozialstruktur. Deutschland oder Frankreich sind es etwa ob der Einwanderung nicht mehr.

Lewan: Ich bin kein Experte für all diese Länder. Was die USA mit ihrer aufgefächerten Gesellschaft angeht, sehe ich aber in der Tat ein erhöhtes Risiko. Andererseits könnte ich mir vorstellen, daß gerade die Amerikaner dies durch ihren hohen Innovationsgrad wettzumachen vermögen. Aber denken wir doch mal über China nach: Dort gibt es diese enorme Kontrolle durch eine mächtige Zentralregierung. Wird die Digitalisierung dort also zum totalen Überwachungsstaat führen? Sie sehen, es gibt noch mehr Gefahren, und die Gefahren haben in verschiedenen Ländern, Gesellschaften und Kulturen unterschiedlich hohes Potential. Die Wahrheit ist, keiner weiß, wie sich die Digitalisierung auf die einzelnen Staaten auswirken wird. Auf jeden Fall also wird es spannend!

Was ist mit Deutschland? Bewerten Sie die gesellschaftliche Lage hier eher als „sozialdemokratisch“ oder als risikobehaftet?

Lewan: Zweifellos ist Ihre Gesellschaft weniger konsensual als die schwedische. Aber ich habe ja schon gesagt, daß das auch nicht alles ist. Es ist nur eine Erklärung dafür, warum die in puncto Digitalisierung führenden Länder in Europa allesamt kleine Länder sind. Es bleibt aber noch genug Spielraum für die Politik, solche oder andere Nachteile durch gute Leistungen auszugleichen. Nehmen Sie zum Beispiel das Telefonnetz, das so etwas wie das Rückgrat der Digitalisierung ist. Das ist in Schweden sehr gut ausgebaut, obwohl wir ein dünnbesiedeltes Land mit großer Fläche sind.  

Eben, eigentlich müßte es doch löchriger sein als im dichtbesiedelten Deutschland.

Lewan: Das ist aber nicht der Fall, und zwar weil Schweden es verstanden hat, den Nachteil durch eine kluge Politik aufzufangen: Bei der Vergabe der Netze haben wir nicht an jene Anbieter verkauft, die am meisten zu zahlen bereit waren, sondern an jene, die die beste Netzversorgung angeboten haben. So haben wir heute eine Funknetzabdeckung die nicht nur der in Deutschland, sondern auch der in Frankreich oder Italien überlegen ist. Ob beim Telefonieren oder der Datenübertagung: Das schwedische Netz ist stabiler, schneller und sorgt für bessere Qualität!

Wenn unsere Kanzlerin Sie anrufen und um Rat fragen würde, was würden Sie ihr empfehlen?

Lewan: Vor allem die Digitalisierung zügig und umfassend anzupacken! Die schwedische Regierung ist da sehr aktiv, zuletzt haben wir einen CDO ernannt, einen Chef-Digitalisierungs-Offizier. Also agieren, nicht nur reagieren!

In Deutschland hinkt allerdings sogar der Breitbandausbau hinterher.

Lewan: Das ist schlecht, denn der Netz­ausbau ist wie gesagt das Rückgrat der Digitalisierung. Dabei sollten wir uns in Europa eigentlich bereits um das Feld kümmern, auf dem wir einen erheblichen Mangel haben, und das ist das der großen Internetplattformen. Denken Sie dabei aber bitte nicht nur an die Amerikaner, etwa an Facebook, Google, eBay oder Youtube. Auch in anderen Ländern gibt es solche Großen, die uns in Europa nur weniger geläufig sind, zum Beispiel Alibaba aus China. Die einzigen relevanten Strukturen, die wir Europäer diesbezüglich vorzuweisen haben, ist das deutsche Unternehmen SAP und vielleicht noch das schwedische Spotify.  

Woran liegt das eigentlich? Warum wurden all diese Netzriesen von US-Studenten geschaffen, nicht aber von europäischen? 

Lewan: Das ist eine vieldiskutierte Frage. Buchen Sie mich mal für einen Vortrag, da könnte ich Ihnen lange darüber erzählen. Die Erklärung, die zumeist dafür angeführt wird, ist, daß wir keine gemeinsame Sprache haben. 

Bitte? Das Netz spricht Englisch, die Muttersprache der Macher ist doch irrelevant.  

Lewan: Klingt zunächst richtig, ist aber ein Irrtum. Denn meist bieten kleine Start-ups ihre Dienste für jedermann erst mal in der Landessprache an. Und nun machen Sie nicht den Fehler zu glauben, wir Europäer sprächen doch alle Englisch. Das ist nicht der Fall. Reisen Sie mal durch Europa, und Sie werden sich wundern, wie viele Europäer kein oder zuwenig Englisch verstehen. Selbst in Schweden, das europäische Land mit dem höchsten Niveau in puncto Englisch als Fremdsprache, kommen Sie damit nicht überall durch. Machen wir ein Gedankenexperimment zur Verdeutlichung: Stellen Sie sich mal vor, alle Europäer würden Deutsch sprechen – so wie alle Amerikaner Englisch sprechen. Denken Sie ernstlich, das würde keinen Unterschied machen? Im Gegenteil, das wäre ein gewaltiger Unterschied! Und noch etwas: Wenn man nicht eine große gemeinsame Sprachgruppe ist, dann ist allerdings eher von Vorteil, eine ganz kleine zu sein. Denn dann richtet sich der Blick wenigstens automatisch um so eher auf das Englische und den globalen Markt. Während etwa der deutschsprachige Markt das Problem hat, groß genug zu sein, um sich zunächst nur auf ihn zu konzentrieren, am Ende aber doch zu klein ist, um automatisch einen internationalen Spieler hervorzubringen.   

Ist es nicht vielleicht doch das Denken  der Europäer, das nicht innovativ genug ist?

Lewan: Auch das ist ein Irrtum. Denn glauben Sie nicht, daß die Amerikaner „flächendeckend“ digital innovativ sind. Das sind gewisse Zentren, Stichwort Silicon Valley. Es gibt aber auch in Europa Innovationsschwerpunkte. Allerdings heißt das nicht, daß wir uns zurücklehnen können. Nicht nur die Politik, über die wir schon sprachen, auch die Industrie in Europa muß die Digitalisierung mit großem Einsatz angehen. Auf keinen Fall darf sie sich auf ihren herkömmlichen Erfolgen ausruhen! Denken wir etwa an Kodak, deren Kerngeschäft, der Photofilm, so dominant war, daß die Firma, obwohl sie die erste Digitalkamera weltweit anbot, den digitalen Zweig nicht genug entwickelt hat. Heute hat Kodak sowohl das Photofilmgeschäft, das einmal ihr großes Business war, wie das  Digitalkamerageschäft eingestellt – und das unter enormer Schrumpfung.

Was sind die wichtigsten Neuerungen der Digitalisierung, auf die wir setzen sollten?

Lewan: Ganz groß wird „Artificial Intelligence“, also künstliche Intelligenz werden. Außerdem die kognitive Automation, also die Automation geistiger Arbeit – nach der längst bekannten Automation physischer Arbeit. Dann natürlich das Internet der Dinge, das ja schon in aller Munde ist, sowie Blockchain. 

Was bitte?

Lewan: Ja, viele fragen nach, was das ist. Blockchain meint eine Database-Technologie, wie sie der Kryptowährung Bitcoin zugrunde liegt. Database-Technologie meint, wie mit Datenprozessen umgegangen wird. Klassisch werden diese zentral gesteuert. Blockchain bedeutet, daß sie ohne Zentralstelle organisiert sind. Stattdessen ist die Kontrolle über die ganze Vernetzung verteilt. Zudem bedeutet Blockchain, physische und etwa monetäre Prozesse zu verbinden. Wenn sie ein Haus kaufen, ist die Bezahlung das eine – Stichwort Bankkredit –, die Übertragung des Eigentums das andere. Per Blockchain wird das alles zu einem Prozeß. Dies ist eine sehr interessante Technologie, die potentiell erhebliche Veränderungen für viele Industriezweige bringen könnte. Doch sind wir uns noch in einem sehr frühen Stadium und es gibt, auch unter Fachleuten, noch etliche Zweifel welche praktischen Anwendungen wirklich von Blockchain profitieren könnten, vor allem wenn es um solche in großem Maßstab geht. Da wird vielfach experementiert und es wird interessant sein, zu erfahren, was wir daraus lernen können.






Mats Lewan, der Wissenschaftsjournalist studierte Ingenieurswesen und schrieb über zehn Jahre als leitender Mitarbeiter für Ny Teknik, dem führenden skandinavischen Fachmagazin für Technik (das etwa den deutschen VDI Nachrichten entspricht). Außerdem war er Chefredakteur des Next Magasin, das sich mit dem modernen Leben in der Welt des Fortschritts befaßt. Heute arbeitet der 53jährige als freier Journalist, Buchautor, Moderator, hält Fachvorträge und ist Gastautor bei Cnet News, dem Online-Technologie-Portal des US-Medienriesen CBS.  

Foto: Neue digitale Welt: „Politiker neigen dazu, Veränderungen, die für die Gesellschaft schmerzhaft sein und den Bürgern Angst machen könnten, lieber totzuschweigen. Das aber ist fatal ... Deshalb sollten die deutschen Medien dafür sorgen, daß Ihre Öffentlichkeit die Debatte um die Digitalisierung führt, damit die Politik sie nicht aussitzen kann und Ihr Land sie verpaßt“    

 

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