© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Pankraz,
Karim Akerma und der Antinatalismus


Namen, die man sich – vielleicht – merken sollte. Karim Akerma, Théophile de Giraud … Der von ihnen gepredigte „Antinatalismus“ findet allmählich sogenannte „öffentliche“ Aufmerksamkeit, bahnt sich den Weg in die Partygespräche. Akermas Buch „Verebben der Menschheit“ (Alber Verlag, Freiburg 2000), ein hochgelehrtes und gut zu lesendes Opus, blieb seinerzeit unbeachtet in den Regalen stehen, de Girauds Aufritt vorigen Herbst in der Berliner Schaubühne erzeugte schon leichten Tumult. Jetzt hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine längere Reportage über den geborenen Belgier veröffentlicht.

Man erfährt so manches über Théophile de Giraud (49) aus Brüssel, zum Beispiel, daß er bei seinen Vorträgen hin und wieder splitterfasernackt vor sein Publikum tritt, daß er ansonsten von oben bis unter stets tief schwarz gekleidet ist und immer eine Babyflasche mit aufgesetztem Schnuller bei sich trägt. Er kann in einem Café nicht ruhig an seinem Platz sitzen, sondern schnappt sich die servierte Kaffeetasse und geht damit zwischen den anderen Gästen spazieren, wobei er so schnell spricht, daß man ihm kaum folgen kann.

Worum es dem Mann aber wirklich geht, das erfährt man nicht. Der Reporter räumt ein, daß er sich nicht mal sicher sei, ob de Giraud wirklich ein ernsthafter Aktivist ist oder nur ein überzeugter Satiriker, der sich über die von ihm besprochenen Sachen lustig machen will. Er gebe sich jedenfalls als Sprachrohr einer online kommunizierenden Bewegung, die sich für die kontinuierliche und durchaus friedfertige Reduzierung der Bevölkerung einsetzt, weil das Leben, so wie es von der Schöpfung angelegt sei, allenfalls für Tiere hinnehmbar sei.


Für den Menschen, so de Giraud, sei das Leben hingegen nichts als eine Zumutung. „Erstens“, so der Antinatalistenchef laut FAZ, ist „der Schmerz, den man im Leben erleidet, immer intensiver und anhaltender als das Wohlgefühl. Vergleichen Sie mal eine Migräne mit einem Orgasmus! Zweitens ist das Unglück immer schon präsenter als das Glück (…) Und drittens bringen Glücks- bzw. Unglücksempfinden ein jeweils anderes Zeitgefühl mit sich: Unglück dehnt die Zeit, Glück komprimiert sie. In der Summe ergibt das eine Existenz, die man besser gar nicht erst anfangen sollte. Glücklich ist, wer nicht geboren wird.“

Mit solchen Tönen sind die Akerma, de Giraud & Co. übrigens keineswegs allein in der Geistesgeschichte der Menschheit, eher im Gegenteil. Besonders im Abendland dominierte epochenweise der teils skeptische, teil erschrockene Blick auf das Geborensein geradezu und dämpfte alle spontane Lebensfreude. „Nicht geboren zu sein ist das Beste“, verkündete schon vor zweieinhalbtausend Jahren  der gewaltige antike Dramatiker Sophokles in seiner Tragödie „Ödipus auf Kolonos“, und die in die Tausende gehenden Zuhörer in den riesigen Amphitheatern seiner Zeit stimmten ihm aus ganzem Herzen zu. 

Das christliche Mittelalter verbot später den literarischen Lobpreis des Nichtgeborenseins regelrecht, doch in der anbrechenden Neuzeit nahmen diesbezügliche Klagen wieder hörbar und nachlesbar zu. Von Calderon bis zu Montesquieu, von Shakespeare bis zu Voltaire reichte die Skala der Kläger, aus dem neunzehnten Jahrhundert wären etwa Georg Büchner und Lord Byron zu nennen, näher hin zur Gegenwart Hermann Hesse, Cioran, Gerhart Hauptmann, Albert Camus, Heiner Müller.

Widerspruch regte sich nur langsam, und er hatte leider allzu oft nur matte Argumente auf seiner Seite, routinierte Theologensülze oder romantischen Schönheitskitsch. Am treffendsten reagierte damals in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, findet Pankraz, Kurt Tucholsky, Starautor der Weltbühne. Bei einer Diskussion über eine Hofmannsthal-Aufführung im Deutschen Theater in Berlin soll kein Geringerer als Alfred Kerr mit pompöser Geste den Sophokles-Vers „Nicht geboren zu sein ist das Beste“ zitiert haben, und Tucholsky erwiderte darauf in trockenstem Ton: „Mag schon sein, aber wem passiert das schon?“


Härter sind wohl kaum je feierliche Phrase und simple Realität zusammengestoßen. In der Tat, niemand kann selber darüber entscheiden, ob er nun geboren werden will oder nicht, es sind die Eltern, die das tun, des weiteren Mediziner und medizinische Empfindlichkeiten, ferner religiöser beziehungsweise staatlicher Druck, zunehmend auch technische Standards und digitalisierte „Empfehlungen“. Fremdlinge entscheiden über Leben und Tod. Kein Embryo hat auch nur die mindeste Möglichkeit, sich hier als Entscheidungsfaktor bemerkbar zu machen.

Es geht ja nicht, wie in der Politik (und nicht nur dort) üblich, ums „bessere Leben“, sondern um Leben, menschliches Leben, an sich. Da geraten selbst voll ausgewachsene und von guten Absichten erfüllte Entscheidungsträger in Handlungsnöte. Es ist dem Menschen nicht gegeben, über die Existenzwürdigkeit des Lebens überhaupt Urteile zu fällen; er darf jeweils nur über ökologische Gleichgewichtszustände innerhalb des Lebens entscheiden. Alles andere wäre, von jedem nur vorstellbaren Standpunkt aus gesehen, allerschwerstes Verbrechen, unverhandelbar, untilgbar, zum Himmel schreiend.

Freilich will Pankraz nun nicht behaupten, daß die erklärten Antinatalisten Verbrecher im genannten Sinne sind. Wie käme er denn dazu? Vielleicht sind es doch begabte Satiriker? Oder gar große Literaten, die die Verhältnisse gleichsam magisch erhellen, um die Seelen zu ergreifen. Zwischen böser Tat und guter Abbildung können tiefe Unterschiede klaffen. 

Was aber die dem Leben als Ganzem eingepflanzten Bitternisse betrifft, so soll Johann Wolfgang von Goethe hier wieder einmal das letzte Wort haben. In einem Brief an Auguste zu Sollberg in Weimar schrieb er tröstend: „Alles geben Götter, die unendlichen, / ihren Lieblingen ganz, / Alle Freuden, die unendlichen, / Alle Schmerzen, die unendlichen, / ganz.“