© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Zeitschriftenkritik: Baltische Studien
Wilhelm Furtwängler in Pommern
Ulrich Zimmer

Der Aufstieg der Familie Dohrn begann 1817 mit der Gründung der Pommerschen Provinzial-Zuckersiederei, dem ersten großen Industrieunternehmen Stettins. Die Fabrik eroberte schnell den östlichen Markt Preußens, die Umsätze schnellten empor. Einen beträchtlichen Teil des Reichtums verwendeten der Firmenchef Heinrich Dohrn (1769–1852), sein Sohn Carl August (1806–1892) und dessen Enkel für ihr mäzenatisches Engagement in Kunst  und Wissenschaft. Carl August stieg selbst zum „Fürsten der Entomologie“ auf, die Jahrgänge seiner  Stettiner Entomologischen Zeitung füllten nicht nur die Regale des passionierten Käfer-Sammlers Ernst Jünger. Carl Augusts Sohn Anton, ein bedeutender Meeresbiologe, dem Theodor Heuss während der inneren Emigration eine Biographie (1940) widmete, rief 1873 die Zoologische Station in Neapel ins Leben, damals das größte zoologische Laboratorium der Welt. Und Carl Augusts Tochter Anna vererbte das künstlerische Familientalent ihrem Enkel, dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Der fühlte sich denn auch zeitlebens mit den Ahnen an der Ostsee verbunden, als „rein norddeutsch, resp. preußisch (Pommern)“. 

Eine vergleichbar enge Beziehung zu Stettin ergab sich für Furtwängler aus der Freundschaft mit dem von 1910 bis 1933 dort amtierenden Museumsdirektor Walter Riezler (1878–1965). Der vielseitig begabte Münchner Patriziersohn, Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, Musiktheoretiker, Beethoven-Forscher, war als Hauslehrer der erste musikalische Mentor Furtwänglers und zeitlebens sein kritischer Wegbegleiter. Mit der schwierigsten Wegstrecke beschäftigt sich ein Beitrag in der jüngsten Ausgabe der Baltischen Studien. Während der Meister zwischen seinem Urlaubsdomizil auf Usedom und Bayreuth pendelte, stritten die Freunde über den Wert atonaler Musik und den Riezler suspekten Einsatz des „Traditionalisten“ Furtwängler für den „völkisch“ vereinnahmten Richard Wagner. Da die „Neutöner“ als „Musikbolschewisten“ galten, führt der Disput mitten hinein in eine zentrale kulturpolitische Kontroverse der Weimarer Republik.

Eine Ära, die in den Baltischen Studien eher stiefmütterlich behandelt wird. Auch das aktuelle Heft findet seinen Schwerpunkt daher wieder in der Frühen Neuzeit, etwa mit Studien über die schwedische Invasion Hinterpommerns (1675) und die „erste preußische Seeschlacht auf dem Stettiner Haff“ (1759). Zeitlich näher als im Furtwängler-Aufsatz rückt Pommerns Geschichte nur in einem Nachruf auf die Kunsthistorikerin Birgit Dahlenburg (1959–2017), der Kustodin der Greifswalder Universität. Sie habe unter der Entfremdung der Universität von der Landschaft gelitten, die von Professoren ausging, die sich auf Geschichtsentsorgung kaprizierten und deren Furor sich gegen Ernst Moritz Arndt richtete. Dessen Kirchenlied „Ich weiß, woran ich glaube“ wurde auf Wunsch der Verstorbenen während des Trauergottesdienstes gesungen.

Kontakt: Baltische Studien, Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte, Neue Folge Band 103, 2017, Verlag Ludwig, Kiel 2018, 263 Seiten, Abbildungen, 20 Euro. 

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