© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Digitalisierung des Lernens
Gegoogelte Bildung
Traute Petersen

Die hochgemuten Visionen des Google-Chefs Sundar Pichai lassen Trumps Parole „America First“ zu einer halbherzigen Vokabel zusammenschrumpfen. Denn Pichai setzt auf Intelligenz, freilich auf künstliche: AI (artificial intelligence), zu deutsch KI (künstliche Intelligenz). Seine Parole „KI first“ enthält aber nur die halbe Wahrheit. Wie er vor Journalisten erklärte (FAZ, 6. Dezember 2017), fühlt er sich verpflichtet, KI zu „demokratisieren“, das heißt „jedem zugänglich zu machen“. Google-Brain-Experten um Pichai erforschen auf ihrem Weg zur KI die Funktionen des Gehirns mit Hilfe künstlicher neuronaler Netzwerke und lernender Algorithmen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von „Deep Learning“. Die Verbindung von „KI first“ und „Deep Learning“ zielt auf das Wunschbild einer von „first“ bis „deep“ reichenden, weltumspannend-demokratisierten, digitalen Fortschrittsspirale.

Erfolgreiche „Demokratisierung“ von KI vollzieht sich für Pichai unter der Fahne der Digitalisierung vor allem in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen, Konzernen und Firmen wie der Telekommunikations- oder Automobilindustrie, aber auch mit Regierungen. In mahnenden Appellen des französischen Staatspräsidenten und deutschen regierungsamtlichen Erklärungen heißt es unisono: Digitalisierung ist eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit, gleichrangig mit Europa, Klimaschutz und Bildung.

Deshalb gilt Pichais besonderes Lob der von der deutschen Kanzlerin ausgerufenen „Bildungsrepublik“. Denn hier wurden all die Rufe nach „mehr Bildung“, „Bildung für alle“ in jenem Digitalpakt gebündelt, den die Kanzlerin 2016 in Saarbrücken auf den Weg brachte. Knapp zwei Jahre später verspricht uns die Groko ein digitales Paradies: vom Digitalpakt Schule bis zur nationalen Dekade für Alphabetisierung – gefördert vom neuen „Zentrum für künstliche Intelligenz, das wir gemeinsam mit unseren Partnern errichten“.

Unseren Partnern? Offenbar hat sich Pichai rechtzeitig in Stellung gebracht, als er erklärte, nichts anderes als das in Saarbrücken Beschlossene würde er der Kanzlerin raten, wenn er ihr Technologieberater wäre. Das neue „Zentrum für KI“ möchte nun Wege zur „Demokratisierung von KI“ öffnen, von denen vor allem Banken und Industriekonzerne profitieren sollen. Auch der Digitalpakt Schule? Hier lautet Pichais Konzept: „Ein breites und umfassendes digitales Curriculum vom Kindergarten an.“

Den idealen Transmissionsriemen für ein solches Curriculum, ein geschlossenes Konzept für das gesamte Bildungssystem, bietet, dank der allgemeinen Schulpflicht und bestens geeignet für „Deep Learning“ von Kindesbeinen an, die Schule. Digitale Bildung wird, so Pichai, die Heranwachsenden vorbereiten, mit KI „glücklicher und produktiver“ zu leben. Ein Leben voll Glück und Produktivität – wer möchte das nicht? Hier läßt Pichai freilich die Katze aus dem Sack. Denn er begründet sein Bildungskonzept nicht pädagogisch, sondern ökonomisch. Angesichts der neuen Herausforderungen seien die bisherigen Formen von Bildung und Lernen überholt: „So geht das nicht mehr, so funktioniert eine moderne Wirtschaft nicht.“ Statt dessen sollen lernende Computerprogramme „personalisierteres und einfacheres Lernen“ ermöglichen. Im vierfachen Komparativ also nicht nur „glücklicheres und produktiveres Leben“, sondern auch „personalisierteres und einfacheres Lernen“.

Der Digitalpakt setzt auf Verhaltensformen wie Flexibilität, Teamfähigkeit und Belastbarkeit, Qualifikationen also ohne inhaltliche oder ethische Aussagen. Führt der Mafioso seinen Killerauftrag nicht auch flexibel, teamfähig und belastbar aus?

Die Strategie eines Tech-Giganten, der das Funktionieren von Mitarbeitern, Konsumenten und Märkten im unternehmerischen Eigeninteresse bestimmt, setzt auf möglichst schnelle Ausrichtung und Anpassung an Kundenbedürfnisse. Lange Entwicklungszeiten bergen in der digitalen Welt das Risiko, daß andere einem zuvorkommen. „Kreativität“ und „Offenheit“ fordern also ebenso das Erzeugen von Kundenwünschen wie geschmeidige Anpassung an diese – ein System fremdsteuernder, fremdgesteuerter und eigennütziger Checks and Balances. Dieses System überträgt Pichai umstandslos auf den Bereich von Bildung und Erziehung.

Aber hier liegen die Dinge anders. Die Verantwortung von Eltern, Erziehern und Lehrern gilt Kindern und Jugendlichen, mehr oder weniger Unfertig-Unmündigen, deren unabgeschlossene Bildung Zeit braucht für Veränderung und Wachstum. Den ihnen Anvertrauten helfen sie beim Erlernen elementarer Kenntnisse und Fertigkeiten, bei der Entwicklung von Leistungsfähigkeit, bei Persönlichkeitsbildung und Weltorientierung im Rahmen einer verbindlichen Werteordnung.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund Pichais Diktum „So geht das nicht mehr“? Freimütig gibt der Google-Vorstand die Marschrichtung vor: Um das digitale Curriculum „durch das ganze System zu bringen“, müssen natürlich zunächst alle Schulen mit der nötigen Technologie ausgestattet werden. Die finanziellen Mittel für die von Google bereitgestellten Computer, Smartphones, Tablets, für Hard- und Software sowie für IT-geeignete Räume wollen Bund und Länder aufbringen: fünf Milliarden ab 2018.

Sodann kann die Antwort auf Pichais hilfsbereites Anerbieten erfolgen: „Wie können wir Lehrern mit Technologie helfen?“ Von wem werden wohl die zentralen curricularen Programme erstellt und vertrieben werden? Programme, mit denen lernende Algorithmen das Lernen von Lehrern steuern, auf daß sie menschliche Intelligenz („So geht das nicht mehr!“) in künstliche zu verwandeln beginnen, um dann ihre Schüler zu lehren, wie man lernenden Algorithmen auf demselben Weg folgt? Selbständige, fachlich und pädagogisch versierte Lehrer betrachten Lehrpläne, wenn sie die Klassentür hinter sich geschlossen haben, gegebenenfalls als Makulatur. Technologische Steuerung durch digitale Curricula und algorithmische Prozeduren dürfte hierfür kaum mehr Spielraum lassen.

Werden Schüler damit „personalisierter und einfacher“ lernen? „Personalisierter“ keinesfalls, bestenfalls „einfacher“: Die digitale Programmierung Jugendlicher läuft störungsfreier ab als pädagogische Prozesse zwischen Menschen von Fleisch und Blut. Zudem bietet die Medienkompetenz, mit der heute bereits Grundschüler vielen Lehrern bei der Nutzung neuester Handy- und Smartphonemodelle überlegen sind, der modernen IT-Technologie ein offenes Einfallstor.

Kritikern gegenüber gibt sich der ansonsten missionarische Pichai verständnisvoll und vorsichtig. In diesem sehr frühen Stadium könne man Fragen nach dem ethisch-regulativen Umgang mit KI erst nach weiteren Fortschritten beantworten: „Dann wissen wir erst, worum es geht.“ Fragen nach Qualität, Sinn und Folgen eines Produkts sollen erst beantwortet werden können, wenn Fortschrittserfolge vorliegen? Offenbar rechnet es sich inzwischen für bestimmte Geschäftsmodelle, Verantwortung oder Haftung für ein beworbenes Produkt und dessen Folgeabschätzung auf die Zukunft zu verschieben. Im pädagogischen Bereich gleicht das offene Experiment „Erst später sehen, worum es geht“ einem Offenbarungseid, der Heranwachsende zu Versuchskaninchen macht. So erscheint Pichais scheinbar bescheidene Frage „Worum es geht“ als hintersinnige Ergänzung des zuvor verkündeten Urteils „So geht es nicht“.

Aber vielleicht greifen solche Bedenken zu kurz? Kommende Schülergenerationen könnten doch wohl nur dann zu Versuchskaninchen des digitalen Fortschritts werden, wenn die Schule ihnen bisher wesentlich anderes als das von Pichai Empfohlene geboten und abverlangt hätte. Schulische Bildung zielt heute weniger auf bestimmte Inhalte oder Lernzuwachs als auf die Frage, „ob und wie ich etwas kann“. Vorgaben hierfür liefern umfangreich-detaillierte Kompetenzlisten. Als deren Summe, gewissermaßen als Kompetenzkompetenz, nennt der Digitalpakt die „Qualifikation zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Lebenssituationen“. Diese Qualifikation setzt ohne inhaltliche oder ethische Aussagen auf Verhaltensformen wie Flexibilität, Teamfähigkeit, Belastbarkeit. Gelten entsprechende Qualifikationen nicht auch für den Mafioso, der seinen Killerauftrag flexibel, teamfähig und belastbar ausführt?

Welche Vorbehalte gegen neue digitale „Technologiekompetenzen“ sollten Jugendliche entwickeln, die selbst in Pausen auf den Schulhöfen, schweigend und wortlos tippend oder wischend, auf die Displays ihrer Smartphones starren?

Und sind das nicht eben die Qualifikationen, die den belastbaren, teamfähig-flexibel einsetzbaren Mitarbeiter eines Wirtschaftskonzerns wie Google, Facebook oder Amazon auszeichnen? Liegt Pichai mit seinen Glücksversprechungen also gar nicht so verkehrt? Welche Vorbehalte gegen neue digitale „Technologiekompetenzen“ sollten Jugendliche entwickeln, die selbst in Pausen auf den Schulhöfen, schweigend und wortlos tippend oder wischend, auf die Displays ihrer Smartphones starren?

Das bisherige Bild von der Schule als Reparaturbetrieb der Gesellschaft verblaßt vor einem neuen, vielgestaltigen Modell: Schule als Zuliefererbetrieb für eine digitale Wirtschaftswelt, als Schulungs- und Vorbereitungsort für funktionierende Steuerung (und Steuerbarkeit!) mittels IT-konformer Verhaltensdispositionen und -kompetenzen. Aber sind es nicht gerade die Vertreter von Wirtschaftsunternehmen und -organisationen, die frustriert über inakzeptable Defizite von Schulabgängern klagen – nicht über mangelnde IT-Kenntnisse, sondern fehlende Wissensgrundlagen und elementare Kulturtechniken?

Die erste Bedingung für Bildung sei Freiheit – Wilhelm von Humboldts Feststellung klingt angesichts einer digitalen Maschinerie lernender, das Lernen steuernder Algorithmen wie ein Satz aus einer halb vergessenen Sprache. Denn was können Schüler in einem solchen digitalen Curriculum lernen? Die Erwartung, wachsende Datenmengen könnten Wissenszuwachs und neue Handlungsspielräume eröffnen, bleibt utopisch, solange die Unterscheidungsfähigkeit zwischen wichtig und unwichtig, einleuchtend oder abwegig fehlt. Unterscheidungsfähigkeit in wachsenden Datenmeeren aber wäre gerade für Heranwachsende unabdingbar, um Quellenkritik zu üben, Alternativen und Zusammenhänge zu erkennen. Franklin Foer konstatiert in seinem Buch „World Without Mind: The Existential Threat of Big Tech“, Algorithmen seien programmiert worden, um den Menschen aus dem Erkenntnisprozeß zu entfernen.

Datenmeere ermöglichen lediglich die Beobachtung von Korrelationen. Korrelationen können nicht zu Erkenntnisquellen werden oder Entscheidungshilfen geben. In Pichais Sprache: im pädagogischen Geschäftsmodell fehlt ihnen der Mehrwert. Die Folgen regelmäßiger Nutzung von Big Data auf Alltag, Produktivität, Sozialleben, Schlafgewohnheiten und Gefühle haben Forscher um den südkoreanischen Neuroradiologen Hyung Suk Seo im Hinblick auf Teenager untersucht. In den jugendlichen Gehirnen beobachteten sie neurochemische Veränderungen mit Auswirkungen auf emotionale und kognitive Prozesse: Depression, Angststörung, Impulsivität, Schlaflosigkeit.

Vor diesen Konsequenzen möchte der französische Präsident, der zwischen Ökonomie und Menschenbildung unterscheidet, die Jugendlichen in seinem Land bewahren. An französischen Schulen herrscht ab Schuljahr 2018/19 Handyverbot. Bildung, erklärt der französische Bildungsminister, vollziehe sich nun einmal über Personen und Beziehungen, nicht über Mobiltelefone, Handys und Smartphones. Jenseits der deutschen Grenze, nicht weit von Saarbrücken entfernt, gelten digitale Bildungscurricula offenbar nicht einfach als unbestreitbarer Gewinn. Unbestreitbar ist dagegen der Gewinn des von Pichai geführten Technologiekonzerns. Google steigerte 2017 seinen Marktwert um sieben Prozent und ist an der Börse Hunderte Milliarden Dollar wert.






Dr. Traute Petersen war von 1989 bis 1993 Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands. Tätigkeit im schleswig-holsteinischen Hochschul- und Schuldienst. Publikationen zu historischen, bildungspolitischen und kunstgeschichtlichen Themen unter anderem in der FAZ, der Süddeutschen, der Welt sowie in diversen Verlagen, zuletzt „Augustus. Die Inszenierung von Politik“ (2015).

Foto: Grunschulkinder spielen mit Computer: Wird die Schule zum Zuliefererbetrieb für die Vertriebsinteressen einiger marktbeherrschender Großkonzerne der Digitalwirtschaft, zum Schulungs- und Vorbereitungsort für IT-konforme Verhaltensweisen?