© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Warum Libyen zum Failed State wurde
In dem nordafrikanischen Staat wurde 2011 durch westliche Intervention ein Regimewechsel durchgesetzt / Höchst suspekte Gründe der USA für einen Angriffskrieg, der das einst reiche Land ins Elend stürzte
Thomas Bargatzky

Seit 2015 gilt Libyen als eines der größten Transitländer der afrikanischen Migration nach Europa. Im vergangenen Jahr mühten sich europäische Nationen, allen voran Frankreich, den massenhaften Transit von dort in überladenen und oft seeuntauglichen Booten zu kanalisieren, was sich allein deshalb als schwierig erwies, weil es keine zentralstaatliche Instanz gibt, die die Konrolle über die gesamte libysche Küste ausübt. Ob das Abebben des Flüchtlingsstroms im Herbst 2017 also der Verhandlung mit lokalen Warlords geschuldet war oder der Jahreszeit wird sich spätestens im Mai zeigen, wenn die Witterung einen Transfer wieder zulassen könnte. Die Situation in den libyschen Flüchtlingscamps hat sich indes kaum verbessert.

Damit nicht in Vergessenheit gerät, wie es zu dieser Tragödie kam und wer dafür verantwortlich ist, ist die Erinnerung an den Angriffskrieg gegen Libyen wachzurufen, der vor mehr als sieben Jahren, im März 2011, begann. Am 1. Mai 2003 erklärte Präsident George W. Bush den Irak-Krieg für siegreich beendet („mission accomplished“). Wenige Tage später verkündete John Gibson, ein leitender Manager der „Halliburton’s Energy Service Group“, in einem Interview: „Wir hoffen, daß Irak der erste Dominostein ist und daß Libyen und der Iran anschließend fallen. Wir mögen es nicht, aus Märkten ausgeschlossen zu werden, weil dies unseren Mitbewerbern einen unfairen Vorteil verschafft.“ Aufsichtsratsvorsitzender von Halliburton von 1995 bis 2000 war Richard Cheney, bevor er 2001 Vizepräsident der USA wurde. 

2011 sollte der libysche „Dominostein“ fallen. Bewußt irreführende Meldungen über Massaker der libyschen Regierung an regierungskritischen Demonstranten führten am 17. März zur Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats, der darin ein Waffenembargo und eine Flugverbotszone verhängte. Am 19. März begannen Frankreich, Großbritannien und die USA Luftangriffe, bis die Nato am 31. März die Kriegführung übernahm. Im Sommer 2011 hatte sich die von der Resolution 1973 vorgesehene begrenzte Intervention zum Schutz von Zivilisten in eine völkerrechtswidrige Kampagne zum Regimewechsel gewandelt. Das Ergebnis war der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch Libyens, Krieg zwischen den Milizen und Stämmen, humanitäre Krisen und die Migrationskrise, weitverbreitete Verletzungen der Menschenrechte, Sklavenmärkte, die Plünderung libyscher Waffenarsenale und die Einschleusung von Waffen nach Syrien und letztlich die Ausbreitung des Islamischen Staates (ISIL) in Nordafrika. 

Der Krieg gegen Libyen verstieß gegen die Verfassung der USA, gegen Geist und Buchstaben des Nato-Vertrages und gegen das Völkerrecht. Die Charta der Vereinten Nationen verbietet den Mitgliedern die Anwendung von Gewalt gegen einen Mitgliedsstaat und läßt nur die Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs oder ein Mandat des UN-Sicherheitsrates zu. Der Sicherheitsrat kann den Einsatz militärischer Mittel jedoch nur dann erlauben, wenn die internationale Sicherheit mit anderen Mitteln nicht bewahrt werden kann und der Weltfrieden bedroht würde. 

Libyen hat 2011 jedoch weder einen anderen Staat angegriffen, noch ging von dem Land eine Bedrohung des Weltfriedens aus. Daher wurde eine Legitimationskulisse aus Pseudo-Gründen hochgezogen, hinter der die Aggressoren ihre wahren ökonomischen und geostrategischen Gründe verbargen: 1) Libyen sei ein staatlicher Förderer des Terrorismus, 2) der Schutz der Menschenrechte sei nicht gewahrt, 3) Zivilisten seien Opfer von Massakern der Regierung. Die wahren Gründe für den Krieg waren jedoch: 1) die Sicherung des Zugriffs auf afrikanische Ressourcen, 2) die Sorge um den Verlust der westlichen Kontrolle des libyschen Bankwesens, 3) die Wahrung geostrategischer Interessen in Afrika und dem Nahen Osten.

Verbündeter gegen den islamistischen Terrorismus

Vor dem Nato-Krieg galt Muammar al-Gaddafi in den Militär- und Geheimdienstkreisen der USA als verläßlicher Verbündeter im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. 2006 verkündete die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice daher die Wiederaufnahme der vollen diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Libyen und dankte Libyen ausdrücklich für die „hervorragende Zusammenarbeit“ bei der Terrorbekämpfung. Gaddafi galt nämlich in oppositionellen islamistischen Zirkeln als „Feind Nr. 1 des Islam“. Diese Kreise bekämpften ihn nicht etwa, weil er „undemokratisch“, sondern weil er in ihren Augen „unislamisch“ war. 

Um das Menschenrechte-Argument zu beurteilen, muß man Libyen mit anderen Ländern der weiteren Region vergleichen. Nehmen wir nur Saudi-Arabien und Bahrain als Beispiele: Saudi-Arabien ist einer der repressivsten Staaten weltweit, und militärische Gewalt gegenüber Protestierenden wurde 2011 nicht nur in Libyen, sondern auch in Bahrain ausgeübt, wo eine schiitische Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung von einem sunnitischen Herrscherhaus drangsaliert wird. Die USA unterhalten in Bahrain, Katar, Kuwait, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten jedoch Militärstützpunkte. In Bahrain liegt das Hauptquartier der 5. US-Flotte. Daher schwieg man im Westen auch zur Niederschlagung des Aufbegehrens dort mit der Hilfe saudischer Truppen im Februar 2011.

Bereits während einer Pressekonferenz des Pentagons am 1. März 2011 mußten US-Verteidigungsminister Robert Gates und der Chef des Generalstabs, Admiral Michael Mullen, auf Fragen von Journalisten zugeben, daß keine Beweise dafür vorlägen, daß Gaddafi Luftangriffe auf sein eigenes Volk fliegen lasse. Es gab in Libyen weder einen Genozid noch ein Massaker an der Zivilbevölkerung, noch betrieb die Regierung ethnische Säuberungen. 

Der im September 2016 veröffentlichte Untersuchungsbericht des britischen Unterhauses ist eine schallende Ohrfeige für die britische Regierung unter dem damaligen Premierminister David Cameron und damit auch für die anderen am Krieg teilnehmenden Mächte. Das Vorgehen des Westens beruhte demnach „nicht auf akkuraten Geheimdienstinformationen. Die (britische) Regierung erkannte insbesondere nicht, daß die Bedrohung der Zivilbevölkerung übertrieben dargestellt wurde und daß sich eine bedeutsame Anzahl von Islamisten in den Reihen der Rebellen befand.“ 

Nach Libyens Verzicht auf Massenvernichtungswaffen investierten westliche Ölkonzerne massiv im Lande. Man war jedoch bald enttäuscht, weil sich Libyen mit den von US-Firmen erwarteten milliardenschweren Aufträgen zum Ausbau der Infrastruktur zurückhielt. Auch Gaddafi war mit dem für libysches Öl erzielten Preis unzufrieden und dachte daran, westliche Ölfirmen zu verstaatlichen. Während seines Besuchs in Moskau im November 2008 wurde die Schaffung eines Erdgas-Kartells besprochen, das Rußland, Libyen, Iran, Algerien und zentralasiatische Staaten umfassen sollte. Kaum einen Monat nach der Ermordung Gaddafis am 20. Oktober 2011 trafen Vertreter mehrerer amerikanischer Firmen mit der staatlichen libyschen „National Oil Company“ zusammen und äußerten sich äußerst zufrieden und hoffnungsvoll bezüglich zukünftiger Geschäfte. 

Libyen wickelte seine finanziellen Transaktionen außerhalb der Kontrolle internationaler, das heißt westlicher Finanzagenturen ab. Die zu hundert Prozent staatliche libysche Zentralbank konnte eigene Währungsmittel in Umlauf bringen und ein eigenes Kreditsystem unterhalten. Die Unabhängigkeit Libyens von externen Finanzquellen sollte durch seine Goldreserven und seine fossilen Energieträger ermöglicht werden. Libyen verfügt über die größten Erdölvorräte auf dem afrikanischen Kontinent, und libysches Erdöl wird wegen seiner Qualität sehr geschätzt. 

Die libysche Zentralbank besaß ferner im Jahre 2010 143,8 Tonnen Gold und stand damit auf Platz 24 der Rangliste der Länder mit Goldreserven. Diese Reserven sollten zur Deckung einer panafrikanischen, auf dem libyschen Gold-Dinar beruhenden Währung dienen. Ferner sollten auch alle Handelsgeschäfte mit libyschem Öl über die libysche Zentralbank auf der Grundlage dieser Währung abgewickelt werden, nicht mehr über den US-Dollar. Das hätte für die USA den Verlust der Kontrolle über den Erdöl-Handel mit Libyen bedeutet. Da die USA beanspruchen, bei allen Geschäften, die über den Dollar abgewickelt werden, ein Mitspracherecht zu haben und ausländische Geschäftspartner vor ein US-amerikanisches Gericht zitieren, hätte der Erfolg von Gaddafis Plan einen Kontrollverlust der USA über libysch-afrikanische Handels- und Finanzangelegenheiten mit sich gebracht. 

Opfer geostrategischer der Machtprojektion

Die von den USA „eingefrorenen“ libyschen Staatsgelder in Höhe von mindestens 30 Milliarden US-Dollar waren ferner als Libyens Beitrag zur Finanzierung von drei Kernprojekten afrikanischer monetärer Unabhängigkeit gedacht: der „African Investment Bank“ in Sirte, des „African Monetary Fund“ mit Sitz in Yaoundé und der „African Central Bank“ in Abuja. Eine Zentralbank, die eigenes Geld auf der Grundlage der Stützung durch libysches Gold ausgibt, hätte den frankophonen Staaten Afrikas eine Alternative zum französischen CFA-Franc verschafft. 

Frankreichs Präsident Sarkozy zufolge stellten Libyens Aktivitäten eine „Bedrohung für die finanzielle Sicherheit der Menschheit“ dar. Laut einer E-Mail an Hillary Clinton vom 2. April 2011, die sich auf französische Geheimdienstkreise stützt, wollte Sarkozy durch den Libyen-Krieg 1.) Frankreich einen größeren Anteil an Libyens Erdölproduktion sichern, 2.) Frankreichs Einfluß in Nordafrika vergrößern, 3.) verhindern, daß Libyen Frankreich langfristig als dominierende Macht im frankophonen Afrika verdrängt, 4.) Frankreichs Militär eine Gelegenheit geben, sich auf der Weltbühne Geltung zu verschaffen, 5.) seine eigene politische Stellung in Frankreich stärken.

Libyen war ein nordafrikanischer Staat, der sich dagegen wehrte, unter die Kuratel des United States African Command (Africom) zu geraten und durch die Verlegung des Africom-Hauptquartiers von Stuttgart auf libyschen Boden zu einem Nato-Partnerstaat zu werden. Africom soll die amerikanischen militärischen Aktivitäten in Afrika koordinieren, um den freien Abfluß afrikanischer Ressourcen auf den Weltmarkt zu sichern, sprich: den euro-amerikanischen Markt. Die USA importierten bereits im Jahre 2000 16 Prozent ihres Erdöls aus Afrika südlich der Sahara, fast genausoviel wie aus Saudi-Arabien. Bereits 2002 galt der Golf von Guinea als Areal von vitalem US-Sicherheitsinteresse, denn die Region verfügt nicht nur über fossile Energieträger, sondern auch über Mineralien und Rohstoffe, die für die USA von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind: Chrom, Uran, Kobalt, Titan, Diamanten, Gold, Kupfer, Bauxit, Phosphate. 

Ein geostrategisches Ziel des Westens ist die Neutralisierung des Einflusses Chinas und Rußlands in Afrika. Es ging daher beim Krieg gegen Libyen auch um die Errichtung einer Basis für die amerikanische Machtprojektion in den Rest des afrikanischen Kontinents. Von dort aus sollen der Maghreb, das südliche Mittelmeer und die Staaten des Sahel kontrolliert werden. Mit Gaddafi entledigte man sich des schärfsten Widersachers, denn er war strikt gegen eine Basis für Africom auf afrikanischem Boden. 

Eine Depesche der US-Botschaft in Tripolis informierte Außenministerin Rice vor ihrem Besuch in Libyen im Jahre 2008 über die Haltung der libyschen Regierung: „Bezüglich Africom ist die Regierung Libyens der Ansicht, daß jedwede ausländische Militärpräsenz auf dem afrikanischen Kontinent, ungeachtet ihrer Aufgabe, einen inakzeptablen Neo-Kolonialismus darstellen und außerdem ein attraktives Ziel für al-Qaida sein würde.“

Gaddafi geriet in das Fadenkreuz der Nato, weil er nicht fügsam genug gegenüber westlichen Interessen war. Deshalb mußte er aus dem Wege geräumt werden. Libyen, einstmals ein prosperierender Staat, wurde durch den Nato-Krieg ins Unglück gestürzt. Welch fatale Folgen er hatte, wird anhand des „Human Development Index“ deutlich, der Lebensstandard, Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Einkommen, Bildungsgrad, Ernährung, Gesundheit, Freizeit, Infrastruktur mißt. Libyen hatte im Jahre 2010 den höchsten Platz unter allen Staaten des afrikanischen Kontinents.Das war einmal. 






Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte bis 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth

  www.thomas-bargatzky.jimdo.com