© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Neue Möglichkeiten schaffen
Mehr direkte Demokratie wagen: Vor allem digitale Formate könnten junge Menschen wieder für Politik begeistern
Christian Schreiber

Spätestens seit der Bundestagswahl 2017 ist deutlich: Die politische Kultur der Bundesrepublik befindet sich im Umbruch. Abnehmendes Vertrauen in die Volksparteien und weiterhin hohe Nichtwäh­lerzahlen rücken immer wieder Fragen nach einer Krise der repräsentativen Demokratie in den Mittelpunkt. „Wir sollten dafür sorgen, daß unsere Demokratie wieder für mehr Bürger interessant wird und sie sich auch wirklich vertreten fühlen“, forderte Wolfgang Schäuble (CDU) jüngst in der Welt am Sonntag und gestand kleinlaut: „In der vergangenen Legislaturperiode haben wir im Parlament zuwenig gestritten.“ Die Skepsis gegenüber der repräsentativen Demokratie war zuletzt auch beim Mitgliedervotum der SPD zu beobachten. Die einen hielten es für einen Angriff auf das System, die anderen für gelebte Basisdemokratie. Den Mitgliederzahlen der Partei jedenfalls schadete die Debatte nicht.

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch unterstellte dem politischen System bereits vor zehn Jahren eine schwere Krise und schuf dafür das Wort „Postdemokratie“. Zwar gebe es weiterhin freie Wahlen und demokratische Institutionen, doch schwinde die Partizipation der Bürger ebenso wie das Ansehen von Parteien, Parlamenten und Regierungen. Die Demokratie drohe zu einer bloßen Fassade zu verkommen. 

Seit 1956 gab es rund 5.800 Bürgerbegehren

Sein Fachkollege Frank Decker bemängelt ein Souveränitätsproblem, das in einer „Verlagerung von Entscheidungszuständigkeiten auf die supra- und transnationale Ebene“ erkennbar wird. Der direkte Einfluß des Wählers nehme somit ab. Gleichzeitig drifte die Gesellschaft „sozialökonomisch und -kulturell auseinander mit der Folge, daß gerade die marginalisierten Bevölkerungsgruppen den Glauben verlieren, durch Partizipation noch etwas bewirken zu können“.

Gerade junge Menschen sind nur noch schwer an die Wahlurne zu holen. Dabei überzeugt die Idee der Demokratie laut einer Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2015 weiterhin 87 Prozent der 14- bis 29jährigen. Das Vertrauen in die etablierte Politik jedoch schwindet, ganze 38 Prozent sind der Meinung, eine „starke Hand müßte mal wieder Ordnung in unseren Staat bringen“. Digitale Formate direkter Demokratie könnten eine Lösung bieten, denn das Bedürfnis, bei politischen Entscheidungen mitmischen zu können, durchzieht alle Generationen. In einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) gaben 57 Prozent der 1.042 befragten Bürger an, sie würden Online-Beteiligungen in der Politik positiv gegenüberstehen und sich mehr digitale Verfahren wünschen. Politische Beteiligung, Meinungsbildung und Einflußnahme spielten sich nicht mehr ausschließlich innerhalb des politischen Systems ab, lautet eine Vermutung der PwC-Experten.

Die Bundesrepublik jedoch tut sich mit einer direkten Demokratie traditionsgemäß schwer – ganz anders die Schweiz. Dort durften die Wahlberechtigten kürzlich über die Beibehaltung der Rundfunkgebühr abstimmen. Ohnehin stimmen die Schweizer in regelmäßigen Abständen über Themen wie „bedingungsloses Grundeinkommen“ (abgelehnt), die „Begrenzung von Zweitwohnungen“ (angenommen), die „Deckelung von Managergehältern“ (abgelehnt) oder „gegen Masseneinwanderung“ (angenommen) ab. 

In Deutschland sieht das Grundgesetz keine bundesweiten Volksentscheide vor. Lediglich Artikel 29 erwähnt eine Ausnahme für eine mögliche Neugliederung des Bundesgebietes, wenngleich nur für die „betroffenen Länder“, aus deren Gebieten ein neues oder neu umgrenztes Land entstehen soll. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das neue politische System bewußt als repräsentative Demokratie angelegt. Dies war auch eine Lehre aus der gescheiterten Weimarer Republik.

Ein anderes Bild zeigt sich auf Landesebene, wo in einigen Bundesländern auf kommunaler Ebene Instrumente direkter Demokratie vorgesehen sind. Per Volksentscheid, dem das Volksbegehren vorausgeht, können die wahlberechtigten Bürger verlangen, die Landesverfassung zu ändern oder ein neues Gesetz einzuführen. In einigen Ländern gibt es zudem die Volksinitiative, auch Bürgerantrag oder Einwohnerantrag genannt: Wird eine bestimmte Stimmenzahl erreicht, muß sich der Landtag mit dem Thema zwangsläufig beschäftigen.

Von 1956 bis Ende Dezember 2015 gab es in Deutschland rund 5.800 Bürgerbegehren und 3.500 Bürgerentscheide. Fast 40 Prozent aller Initiativen (2.727) und 50 Prozent aller Abstimmungen (1.651) wurden in Bayern eingeleitet. Die Bürger Nord­rhein-Westfalens nutzen das Instrument mit 721 Bürgerbegehren und 214 Bürgerentscheiden ebenfalls intensiv. Das Schlußlicht bildet das Saarland, wo erst 16 Bürgerbegehren seit 1997 gestartet wurden und es bislang noch zu keinem einzigen Bürgerentscheid in den 52 Städten und Gemeinden kam.

Die Autoren der PwC-Studie fordern die Politik nun zu einem Weiterdenken auf. Die Digitalisierung schaffe neue Möglichkeiten der Partizipation. So könnten Abstimmungen künftig auch online durchgeführt werden. Die Vorteile lägen auf der Hand. „Neue Zielgruppen können erreicht, Prozesse beschleunigt, Meinungstendenzen einfacher erfaßt und nicht zuletzt auch Informationen breiter und schneller gestreut werden“, schreiben die PwC-Wissenschaftler. Dies stärke bei richtiger Anwendung Gemeinwohl und Zivilgesellschaft: „Die Digitalisierung bietet damit insbesondere für die Stadtpolitik und Stadtverwaltung ein  enormes Potential, das bei den Bürgern vorhandene Wissen für die Stadtentwicklung zu nutzen und die Wünsche der Bevölkerung viel gezielter und genauer zu berücksichtigen“, heißt es weiter.

Der frühere CDU-Politiker Heiner Geißler (1930–2017) glaubte schon länger, daß es die Politik schaffen müsse, den Menschen „vor Ort mitzunehmen“. Er vermittelte im Konflikt um das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21, das in der örtlichen Bevölkerung für massiven Widerstand sorgte. Geißlers Schiedsspruch führte jedoch zur Umsetzung des Bauprojekts. Als Konsequenz aus den Protesten forderte der CDU-Mann ein Mehr an „unmittelbarer“ Demokratie. „Wir sollten, um Entwicklungen wie bei Stuttgart 21 in Zukunft zu verhindern, das Beteiligungsverfahren der Schweiz übernehmen, zumindest für Großprojekte“, sagte er damals.

Der Geschäftsführer des Europäischen Forums Alpbach, Philippe Narval, bemängelt das gegenseitige Mißtrauen zwischen Politik und Bürger. Ihm fiel auf, daß die Herrschenden einen zunehmenden Argwohn gegenüber der eigenen Bevölkerung hätten. Der Wahlsieg von Donald Trump werde ebenso fassungslos zur Kenntnis genommen wie die Entscheidung der Engländer für den „Brexit“. Er begab sich auf Spurensuche, um Antworten darauf zu finden, wie sich Gesellschaft und Politik wieder in Einklang bringen ließen. In seinem Buch „Die freundliche Revolution“ faßte er diese Erkenntnisse zusammen. 

Viele Menschen scheuen den Weg in die Wahlkabine

Für Narval wurde deutlich: Eine direkte Beteiligung der Bürger solle nicht in einem bloßen „Ja/Nein“-Schema enden. Denn sinnvoll seien neue Partizipationsformen dann, wenn sie den argumentativen Streit um Alternativen fördern. Schlecht sei es, wenn die Vorschläge der direkten Beteiligung „von oben“ ausgingen. Als mahnendes Beispiel nennt er die Initiative „Gut leben in Deutschland“ aus dem Jahr 2015. Es sollte ein großangelegter Bürgerdialog sein, um Ideen für das Land zu sammeln. Am Ende aber stand ein dicker Bericht, der niemanden interessierte. „Beteiligungstheater auf höchster Ebene“, lautet Narvals Fazit. 

Eine Möglichkeit, die Menschen stärker in politische Prozesse einzubinden, könnten sogenannte Beteiligungsplattformen sein. Laut der PwC-Umfrage haben bereits 51 Prozent der Befragten an ihnen teilgenommen, in den Großstädten Hamburg und Berlin sogar 60 Prozent. Seit fast drei Jahren gibt es in der Hauptstadt solch eine Beteiligungsplattform. „Es gibt unterschiedliche Wege der Beteiligung – von der Frage nach Vorschlägen und Meinungen bis hin zu Entscheidungsfindungen“, heißt es auf der Internetseite. 

Gleichzeitig liegt der Schlüssel zu mehr Bürgerbeteiligung auch in der eigenen Komfortzone, da viele Menschen den Weg ins Wahllokal scheuen. Seit etwa zwei Jahrzehnten kann die Bevölkerung in den meisten Bundesländern die Verwaltungsspitzen sowie die Landräte selbst wählen. Ziel der damaligen Entscheidung war es, die Wahlbeteiligung steigen zu lassen. Die Realität jedoch sieht anders aus. Kürzlich wählten die Bürger in Frankfurt/Main eine neue Stadtspitze. Zur Stichwahl rafften sich nur noch 30,2 Prozent der Wahlberechtigten auf, beim ersten Wahlgang waren es 37,2 Prozent. Als 1995 erstmals direkt gewählt werden durfte, gingen immerhin noch mehr als 55 Prozent an die Urne.

Die PwC-Autoren halten digitale Befragungen deshalb für unumgänglich. Laut ihrer Studie sind die meisten Befragten (63 Prozent) der Meinung, daß Onlinebeteiligungen grundsätzlich zu höherer Teilnahme motivieren. Fast drei Viertel sehen vor allem Flexibilität und Zeitersparnis als Vorteile digitaler Beteiligungsformate. Denn anders als Wahllokale ist deren Nutzung nicht an feste Orte gebunden.

Doch mehren sich auch kritische Stimmen. Zum einen sind Manipulationen bei der digitalen Technik nicht ausgeschlossen. Zum anderen seien die Handlungen von Menschen „online immer anders als im echten Leben“, erklärt der Professor für Political Data Science an der TU München, Simon Hegelich. „Und sie reagieren auch anders auf eine Umfrage, als wenn sie sich wirklich damit beschäftigen.“