© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Sich auf das Schöne besinnen
Karl Marx erkannte in der Geschichte die Natur des Menschen
Eberhard Straub

Bücher haben ihr Schicksal. Denn sie finden willige oder unwillige, geduldige oder ungeduldige Leser. Daran erinnerten dauernd Humanisten in der Nachfolge des spätantiken Römers Terentianus Maurus. Der Philosoph und Historiker Karl Marx, am 5. Mai vor zweihundert Jahren geboren, hat ungewöhnlich viel über die verschiedensten Themen geschrieben und war als polemisches Talent von vornherein umstritten. Wer sich auf dessen Gedanken einlassen möchte, muß erst einmal seinen Kopf entrümpeln von den Urteilen oder bloßen Meinungen, die über ihn seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten im Umlauf sind.

Ohne Marx gäbe es keinen Marxismus, heißt es, und ohne den Marxismus keinen Leninismus und Stalinismus. Lenin und Stalin hatten Marx gelesen. Sie begriffen sich als Marxisten und bemühten sich um eine möglichst unanfechtbare Tradition des Marxismus, so wie sie ihn auffaßten. Doch der alte Karl Marx beteuerte, nie ein Marxist gewesen zu sein, und wahrte daher eine ironisch überlegene Distanz zu Marxisten und deren Marxismus. Es ist zumindest fragwürdig, alle Verbrechen oder Grausamkeiten, die im 20. Jahrhundert von marxistischen Kommunisten begangen wurden, unmittelbar auf Karl Marx zurückzuführen. 

Es gibt im übrigen keine unschuldigen politischen und ideologischen Postulate in der Moderne. Auch die Menschen- und Bürgerrechte, für die sich die westliche Wertegemeinschaft unermüdlich weltweit einsetzt, ließen sich – gerade erst verkündet – mühelos mit dem Terror der tugendhaften, revolutionären Republik in Frankreich 1793/94 verbinden, mit den Massenermordungen all derer, die es nicht verdienten, ein Mensch zu sein. In der Welt als Geschichte vermag sich keine Idee rein und fleckenlos zu halten.

Die Kraft der Traditionen unterschätzte er nie

Doch die Dinge zu verstehen, heißt, sie zu komplizieren. Und Karl Marx gehörte gerade nicht zu den schrecklichen Vereinfachern. Neben Goethe und Hegel ist er der große Historiker, der in der Geschichte die Natur des Menschen erkannte. Alles am Menschen ist geschichtlich, in ständiger Bewegung und unübersichtlich wie das Leben selber. Die Geschichte befindet sich deshalb in dauernder Bewegung und Übergängen zu neuen Formen, die frühere nicht verleugnen, sondern fortsetzen und ergänzen.   

Karl Marx interessierten nicht die gleichsam modellhaft erstarrten Epochen als fixe Gestalt, sondern, warum es zu Veränderungen kam, was die Prozesse in der Geschichte beschleunigte. verzögerte oder deren Richtung veränderte. Der Revolutionär verfolgte ganz im Sinne Goethes die Metamorphosen, von den Umständen bewirkt, aber doch vor allem vom Menschen, der sich in der Geschichte seine Welt schafft und seinen Lebensraum. Die zähe Kraft der Traditionen unterschätzte Karl Marx nie. Die USA mochten ein neues, revolutionäres Gebilde sein, aber sie waren, weil Menschen die Geschichte machen, durchaus über englische Bräuche und Rechte auch Erben des Mittelalters. Er betrachtete als Soziologe die gesellschaftlichen Zwiste, die ökonomischen Beweggründe zu vielen Unruhen und Innovationen. Aber er wehrte sich dagegen, als Materialist mißverstanden zu werden.

Marx folgte dem Auftrag des Humanisten Schiller

Das Ökonomische und Materielle wollte er nicht allzu eng auffassen. Zur Produktion und Reproduktion gehörten für ihn selbstverständlich Religion, Familie, Sport, Recht, Moral, Kunst und Wissenschaft. Es gab für ihn nicht einen unverbindlichen Überbau, der den massiven wirtschaftlichen Untergrund  und die Welt der reinen Interessen wie ein Schmücke-dein-Heim dekorativ möblierte. Er sah die Geschichte als einen totalen Zusammenhang, in dem sich der ganze Mensch entfaltet und seine Freiheit gewinnt und steigert.

Der Mensch mit seinem freien Willen ist ein sehr bedingtes Wesen, doch nie determiniert durch ihm übergeordnete  Mächte, etwa die Natur und genetische Programme und andere vom Menschen entworfenen Übermächte. Der Mensch ist der Natur überlegen, er unterwirft sie sich. Sein Reich der Freiheit ist die Geschichte, in welcher der Mensch als selbstbewußtes Subjekt auftritt und sich selbst verwirklicht, indem er handelt und gerade das allzu Menschliche dabei überwinden will, um der sittlichen Idee des Menschen, des mit göttlicher Werdelust begabten Einzelnen, zu genügen. 

Karl Marx war ein Zögling der deutschen Klassik und folgte dem stolzen Auftrag des Humanisten Schiller: „Wisset ein erhabener Sinn / Legt das Große in das Leben, / Und sucht es nicht darin.“ Das Große war die Freiheit, denn nur der freie Mensch war wahrer Mensch. Wie Friedrich von Schiller reagierte Karl Marx gereizt auf alles, was den Menschen von dieser Bestimmung ablenkte und entfremdete: der Maschinenstaat und eine ihm gemäße Gesellschaft, in der nur Funktionstüchtigkeiten erwartet werden, mit denen der einzelne sich nützlich macht. Unter solchen Bedingungen konnte jeder nur zum Schlachtopfer des Fleißes werden und nie seine Menschenwürde ausbilden.

In den Zeiten vor der industriellen Revolution und dem ungebremsten Aufstieg des Kapitalismus war das Leben noch ein Dasein, heute erschöpft es sich im Gewerbe und Geschäft. Das Kapital, eine Kreatur des Bürgers,  hatte sich längst verselbständigt und trieb ihn rund um den Globus, wie Karl Marx beobachtete. Es hat alle sittlich-geistigen Verhältnisse in den eiskalten Wassern der Berechnung ertränkt und zwischen den Menschen kein anderes Band mehr übriggelassen als das nackte Interesse und die gefühllose bare Bezahlung.  

Karl Marx war kein Antikapitalist. Er sah allerdings den Preis, den der Mensch für diese Globalisierung entrichten mußte, und der Preis empörte ihn. Die eine Welt mit der einen Menschheit, homogenisiert durch das alles gleichmachende Geld, brachte den Menschen um seine Unverwechselbarkeit und Eigenart, um seine proprietas, wie die Römer sagten, um sein Eigentum. Der klassisch gebildet Humanist schauderte vor der Gleichheit aller und der Gleichheit der Lebensverhältnisse sowie der Denkgewohnheiten. Im klassischen Griechenland sah er von einigen wenigen das Ideal verwirklicht.

Schönheit, Anmut und Freiheit, diese begeisternde Trinität, hatten freilich die Sklaverei zur Voraussetzung. Er kam deshalb nie auf den Gedanken, die attische Demokratie für ein Vorbild zu halten. Aber die wenigen freien Griechen ermöglichten das Mysterium der Schönheit mit ihrer Kunst und Dichtung, das auch das Leben und das Denken ergriff. Mitten im Leben erschien für einen kurzen Moment das Schöne, das befreiende Ideal. Es bleibt unvergessen und fordert dazu auf, in der Prosa des industriell genormten Alltags sich des möglichen Schönen zu erinnern und in der seelenlosen Warenwelt danach zu streben, zumindest den ganz eigenen Seelenraum festlich-froh für alle möglichen Schwingungen empfangsbereit zu halten.

Bildung macht frei, nicht das Geld

Wie Hegel und Goethe hielt Marx  die Kunst für historisch, aus vergangenen Zeiten in die öde Gegenwart hinüberwinkend. Kunst wurde ihm wie den beiden anderen nun zur Kunstgeschichte, das Museum zur Kultstätte des sterblichen Schönen, das in bezaubernder und enthusiasmierender historischer Erscheinung dennoch von dem Gewinn der Unsterblichkeit über das Gute, Schöne und Wahre kündete. Über ästhetische Erziehung führten Pfade nahe an das Reich der Freiheit, hinaus aus der entfremdenden Welt der Zwecke und Notwendigkeiten. Bildung und Kunst sicherten dem Menschen seine Würde.

Die Bürgerrechte und Menschenrechte der Revolution mochten eine politische Emanzipation gebracht haben, aber keine menschliche. Auf diesen Widerspruch wies Karl Marx eindringlich hin. Denn das Bürgerrecht auf Besitz und Mehrung des Erworbenen mauerte jeden in seiner Subjektivität und in seiner Selbstsucht ein. Der vollendete Mensch war der vereinzelte Bourgeois, ein Kunde, Verbraucher und vom Geld beherrschter eindimensionaler Mensch.    

Bildung macht frei, nicht das Geld. Wie ein antiker Stoiker legte Karl Marx   weniger Wert auf äußeren Reichtum und flüchtige Genüsse, sondern darauf, die inneren Springbrunnen aufzudrehen. Wer im Inneren darbt, friert in wohltemperierten Wohnräumen, die eben nicht wohnlich sein können. Der angeblich schnöde Materialist und Klassenkämpfer argumentiert wie ein klassischer Philosoph und Schöngeist: nach innen führet der geheimnisvolle Weg. Denn dem so Gebildeten bleibt diese Welt nicht stumm, auf die er dann bildend einzuwirken vermag.

Darin liegt eine große Herausforderung für die aufgeregte Zeit, die zum Verdruß des greisen Goethes nichts mehr reifen läßt und in veloziferischem Taumel den Tag im Tag vertut. Es lohnt sich, Karl Marx zu lesen, gerade um sich vom Primat der Gegenwart und der aktuellen Zwänge zu befreien.