© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

„Ich klage an, aber beklage mich nicht“
Für manche ist er der Staatsfeind Nummer eins, für andere der führende außerparlamentarische Oppositionelle. Denn keiner hat die deutsche Identitäre Bewegung geprägt wie der Student Martin Sellner. Dafür wird er bekämpft wie ein Extremist. Wie sieht er seinen Fall?
Moritz Schwarz

Herr Sellner, sind Sie der Kopf einer kriminellen Vereinigung?

Martin Sellner: Nein, im Gegenteil. Wir, die Identitäre Bewegung (IB), sind Opfer des Versuchs, eine demokratische politische Opposition zu kriminalisieren.

Das sieht die Staatsanwaltschaft Graz anders und hat Ende April eine Großrazzia mit zehn Hausdurchsuchungen gegen Sie und weitere IB-Funktionäre durchgeführt. 

Sellner: Der Grazer Staatsanwalt, dem der Kampf gegen uns offenbar zur Leidenschaft geworden ist, mißbraucht das Recht und zwar auf Grundlage eines Umbaus der Rechtsstaatlichkeit zur Gesinnungsjustiz unter Schwarz-Rot.

Der Vorwurf „kriminelle Vereinigung“ gegen Sie wird ja nicht auf nichts beruhen.

Sellner: Warten wir die Auswertung der Haussuchungen ab. Ich sage, am Ende wird alles eingestellt. Denn es geht um den 2015 von der ÖVP/SPÖ-Regierung um den Tatbestand „Verhetzung“ erweiterten Anti-Mafia-Strafparagraph 278. Seitdem können Personen, die gemeinsam „hetzen“, vom Staat zu einer Mafia erklärt werden. Wenn da nicht alle staatsbürgerlichen Alarmglocken klingeln! Konkret geht es um zwei Demonstrationen der IB in Wien: 2017 vor der türkischen Botschaft unter dem Motto „Erdogan, hol deine Türken ham!“ – womit jene Türken gemeint waren, die immer noch politisch zu ihm statt zu Österreich halten. Das war eine Reaktion auf die Aufforderung Erdogans kurz zuvor an „seine“ Türken hierzulande, mehr Kinder zu zeugen, um so Ankaras Einfluß bei uns zu vergrößern. Die zweite Demo fand 2016 vor der grünen Parteizentrale in Graz mit Blick auf die islamistischen Anschläge in Europa unter dem Motto „Islamisierung tötet“ statt. Beides waren demokratische Meinungsäußerungen. 

Gab es auf den Demos vielleicht noch härtere Sprüche? 

Sellner: Nein. Doch selbst wenn, bliebe es ein demokratiepolitischer Skandal, darauf mit Hausdurchsuchungen zu reagieren. Übrigens erhielten wir bei der Anti-Erdogan-Demo sogar Zustimmung von liberalen Türken hierzulande, und selbst der ÖVP-Chef und heutige Bundeskanzler Sebastian Kurz empfahl den türkischen Erdogan-Fans die Heimreise. 

Und das allein macht Sie zuversichtlich, daß die Vorwürfe nicht zu halten sind?

Sellner: Der Paragraph 278 wurde bereits gegen radikale Tierschützer angewendet – ohne Erfolg. Obwohl die Vorwürfe damals wenigstens Substanz hatten, ging es doch um Sachbeschädigung, Drohungen und Erpressung. Dennoch solidarisierte sich die Öffentlichkeit mit den Tierschützern, weil man erkannte, daß das Strafrecht politisch instrumentalisiert wurde. 

Können Sie auch auf Solidarität hoffen?

Sellner: Immerhin lehnt, bis auf den extremistischen Rand, der meint, daß wir eh öffentlich gevierteilt werden sollten, sogar die Mehrheit unserer Gegner die Anwendung des Paragraphen 278 gegen uns ab, eben weil sie den Mißbrauch erkennt.  

Dann können Sie doch ganz entspannt sein. 

Sellner: Im Gegenteil! Die Behörden haben unsere privaten Konten eingefroren und alles Geld beschlagnahmt. Die Rede ist von „Terrorismusfinanzierung“, weil unsere privaten Einkünfte auch der politischen Arbeit zugute kämen. Damit stehen ich und andere Aktivisten vor dem privaten Aus, weil wir laufende Kosten, Mieten, Kredite etc. nicht bezahlen können. Außerdem hat der Prozeß die Tierschützer dennoch ruiniert, sie blieben auf 400.000 Euro Pozeßkosten sitzen; wir rechnen diesbezüglich übrigens mit mindestens 40.000 Euro. All das hat existenzvernichtende Wirkung. 

Aber bei einem Sieg vor Gericht erhalten Sie doch alles Beschlagnahmte zurück. 

Sellner: Bis dahin wird es etwa ein Jahr dauern. Aber genau darum geht es! Die Staatsanwaltschaft weiß, daß sie nicht durchkommt, aber uns so dennoch ruinieren kann – das ist das Kalkül. Welche Firma kann ein Jahr auf ihre Rechner, Daten, Unterlagen, Gelder verzichten? Das bedeutet eigentlich den Ruin. Wir sind gezwungen, alles neu anzuschaffen. 

Ist das also der K.O. für die IB?

Sellner: Ganz bestimmt nicht, im Gegenteil, die wird dadurch nur angespornt und bekommt unbezahlbare öffentliche Aufmerksamkeit. Aber es kann der Ruin für uns privat sein, der Ruin der Meinungsfreiheit und der Rechtsstaatlichkeit, weil Opposition mit dem Strafrecht bekämpft wird, wie es das eigentlich nur in autoritären Staaten gibt. 

Herr Sellner, weshalb haben Sie 2017 auf offener Straße „um sich geschossen“?

Sellner: Ich war damals nahe der Wiener Uni in eine Diskussion mit einem Studenten vertieft, als mich plötzlich sogenannte Antifaschisten attackierten. Leider bin ich schon öfter überfallen worden und weiß, wie wichtig es ist, auf den Beinen zu bleiben, bis Umstehende eingreifen. Geht man zu Boden, kann es dagegen lebensgefährlich werden. Mit einer Pfefferspray-Pistole konnte ich das verhindern. Dennoch stand anderentags in den Zeitungen, Sellner „schießt um sich“, als wäre ich nicht Opfer, sondern Täter gewesen – ja gar, als wäre ich ein Amokläufer! Ein Grünen-Politiker forderte daraufhin sogar meine Verhaftung.

Hat die Polizei den Hergang nicht ermittelt? 

Sellner: Doch, aber das interessierte die Medien nicht. Ebensowenig, daß jener linke Student, mit dem ich sprach, den Überfall bezeugte. Und auch nicht, daß ich schließlich zwei Prozesse wegen der Behauptung, ich hätte auf Unbeteiligte geschossen, gewonnen habe. Statt dessen sprach die Polizei ein Waffenverbot gegen mich aus, so als wäre ich ernstlich bewaffnet gewesen. Dabei ist die Pfefferspray-Pistole ein freiverkäufliches Verteidigungsmittel, das jeder auf Amazon bestellen kann. Das Verbot wurde natürlich in den Medien erneut genüßlich so dargestellt, als sei ich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Das gleiche Muster dann, als im Dezember mein Auto, mutmaßlich von Antifaschisten, in Brand gesteckt wurde. Die Berichterstattung darüber war teilweise offen hämisch und gipfelte in der Überlegung: Wenn der Sellner da mal nicht selbst dahintersteckt – Stichwort: Versicherungsbetrug.  

Sie sehen sich als Opfer einer Kampagne?

Sellner: Nicht einer gezielten Kampagne, wohl aber einer allgegenwärtigen feindlichen Struktur. Beispiel: Als mir Bürger halfen, den Totalschaden des Autos auszugleichen, den die Haftpflichtversicherung nicht übernimmt, organisierten Antifaschisten einen Shitstorm gegen meine Bank, an welche die Spenden gingen, bis die mir kündigte. So ging das dann bei jedem neuen Versuch, ein Konto zu eröffnen. Inzwischen stehe ich, wie ich erfahren habe, auf einer internen schwarzen Liste einiger österreichischen Banken – zusammen mit Kriminellen und Kriegsverbrechern! 

Jeder hat doch ein Recht auf ein Konto.

Sellner: Dieses „Grundkonto“ ist nur für privaten Gebrauch. Transfers für geschäftliche oder politische Zwecke führen zur Kündigung. Als letzte Möglichkeit blieb ein Auslandskonto, wie es die Identitäre Bewegung Österreich hatte, die ebenfalls alle Konten verloren hat. Aber auch die wurden uns schließlich gekündigt. Ohne Konto keine berufliche und politische Tätigkeit, keine Spenden. 

Ist es nicht das Recht der Banken, Ihnen zu kündigen? Stichwort: Vertragsfreiheit.

Sellner: Stimmt, doch gerade diese wird den Banken durch den sozialen Druck genommen! Gerade das führt die Vertragsfreiheit doch ad absurdum. Die Banken kündigen mir ja nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern sie werden zum Werkzeug der Bekämpfung politischer Opposition. Und das ist nicht das Ende der Schikanen. Fast schwerer wiegt meine wiederholte Sperrung in den sozialen Netzwerken.

Vielleicht sollten Sie sich dort eben mäßigen. 

Sellner: Jahrelang gab es keine Probleme. Plötzlich aber doch, obwohl ich am Charakter meiner Posts und Videos nichts geändert habe. Nicht ich habe mich also radikalisiert, sondern Youtube, teilweise auch Amazon. Bei Facebook und Paypal bin ich bereits ganz gelöscht.

Paypal ist keine Kommunikationsplattform. Warum also ist das schlimm? 

Sellner: Paypal ist ein sehr wichtiges Mittel, um Spenden zu sammeln: Per Paypal honorieren Netz-User sekundenschnell und problemlos etwa Youtube-Videos, die ihnen gefallen. Das sind zwar Kleinbeträge, dennoch machen sie eine erhebliche Summe aus, weil Paypal quasi eine Monopolstellung hat. Da geht es um zwei bis fünf Euro – für die sich aber keiner die Mühe einer Banküberweisung macht. All diese Schikanen zerstören einen weiteren erheblichen Teil der beruflichen und politischen Existenz. Das ganze Ausmaß des Vernichtungswillens, der hinter all dem steckt, wird übrigens am Beispiel eines Identitären deutlich, der infolge der Hetze gegen ihn kürzlich sogar entlassen wurde! Und dennoch hat die Firma durch den Shitstorm einen wichtigen Auftrag verloren, was die Kündigung eines weiteren Mitarbeiters erzwungen hat. Deswegen, und nicht wegen einer angeblichen Radikalität, haben viele Menschen Berührungsängste mit der IB. Was da vor sich geht, ist ein zwar ungesteuerter, dezentraler, aber doch systematischer sozialer Prozeß auf Basis stillschweigender Konvention, Stichwort „Kampf gegen Rechts“, der die Gesellschaft in einem Klima der Angst hält.             

Übertreiben Sie jetzt nicht? 

Sellner: Im Gegenteil, ein solches System gesellschaftlicher Ächtung breitet sich schneeballartig aus, da jeder, der sich auch nur neutral verhält, selbst in Verdacht gerät, Sympathisant des Verdächtigen zu sein und auch bedrängt wird. Davor kann sich nur schützen, wer sich an der Diskriminierung beteiligt. So wird gut die Hälfte der Bevölkerung in Angst davor gehalten, sich frei zu äußern; sprich, das Verfassungrecht auf freie Meinungsäußerung ist zwar nicht rechtlich, aber sozial zum Teil ausgeschaltet. Aber ich sage das nicht, um mich zu beklagen.

Das klingt allerdings genau so.  

Sellner: Nein, ich klage an – aber ich beklage mich nicht. Was ich anklage, ist die Zerstörung der Meinungsfreiheit sowie die illegitime Vernichtung demokratischer Opposition. Politisch anzuklagen heißt aber nicht, sich persönlich zu beklagen. 

Worauf wollen Sie hinaus? 

Sellner: Daß mir klar ist, daß es sich bei allem um die unausweichliche Konsequenz echter Dissidenz handelt, zu der ich mich freiwillig entschlossen habe. Die Mehrheit der Leute ist aber in beruflichen und sozialen Situationen, die es fast unmöglich machen, gegen den Druck aufzubegehren. Das wollen wir ändern. Dabei erfahren wir nicht nur Negatives von seiten des Establishments, sondern auch Solidarität aus der Bevölkerung.

Zum Beispiel?

Sellner: Unsere Gruppe trinkt Kaffee. Als wir um die Rechnung bitten, ist sie bezahlt. „Von wem?“ Antwort: „Von der schweigenden Mehrheit.“ Das sind authentische menschliche Erfahrungen, die für alles entschädigen! Da fühlt man sich schon ein wenig wie „Robin Hood“.

Für wie bedrohlich halten Sie Ihre Lage? Sind Sie persönlich in Gefahr?

Sellner: In Lebensgefahr? Ich würde sagen, bis jetzt noch nicht. Aber was die Gesundheit angeht, ja. Das beweisen die mehrfachen Attacken auf mich. 

Schon mal daran gedacht, aufzugeben? 

Sellner: Nein, überhaupt nicht.  

Haben Sie keine Angst? 

Sellner: Nein. Und zwar, weil ich begriffen habe, daß das Risiko der Preis ist, der zu unserem Engagement dazugehört.

Wird es in Zukunft zu lebensbedrohlicher Gewalt gegen Identitäre kommen?

Sellner: Ich fürchte ja, und zwar weil das in der Logik des linken, hypermoralischen Denkens liegt, wonach wir patriotischen Oppositionellen keine politische Daseinsberechtigung haben. Es ist ein exterminatorisches Denken, das sich zum Beispiel in der pathologisierenden Sprache – etwa wenn Jean Asselborn Viktor Orbán einen „Wertetumor“ Europas nennt – offenbart. Dennoch werden wir uns keine Angst einjagen lassen: sprich, weder werden wir uns zurückziehen noch uns radikalisieren. Beides kommt für uns nicht in Frage, und zwar weil es unseren Überzeugungen widerspricht!

Dennoch gilt die IB als rechtsextrem. 

Sellner: Wir sind keine Extremisten, wollen die verfassungsmäßige Ordnung nicht stürzen, lehnen Gewalt aus Prinzip ab und auch, den politischen Kampf ins Private hineinzutragen. Wir würden also niemals etwa gegen Linke in deren Wohnumfeld vorgehen – während Linke das bei uns ohne Skrupel tun. Unsere Aktionen sind nichts als die verfassungsgemäße Inanspruchnahme unserer Meinungsfreiheit. Als rechtsextrem werden wir allein deshalb denunziert, weil die Leute, die die Definitionshoheit über „Rechtsextremismus“ haben, aus einer weit linken Ecke kommen, wie etwa die angebliche Autorität auf dem Gebiet, der Berliner Politologie-Professor Hajo Funke. Übrigens haben wir schon deshalb kein Interesse an Gewalt, weil wir Patrioten sind und am Ende ja auch die linke Seite der Bevölkerung überzeugen wollen. Gewalt führt nur zu Spaltung, Terror, Bürgerkrieg. Das will keiner von uns.

Im Verfassungsschutzbericht wird die IB als „Verdachtsfall“ geführt. Was ist das?

Sellner: Das müssen Sie Ihren Verfassungsschutz fragen. Ich habe das Amt übrigens mal in einer Ansprache öffentlich eingeladen, sich gemeinsam mit uns an einen Tisch zu setzen und uns mal konkret zu erklären, welche unserer Aussagen, Veröffentlichungen, Akteure etc. verfassungsfeindlich sein sollen, damit wir uns da eventuell korrigieren können. Schließlich ist es doch in unserem wie im Interesse des Verfassungsschutzes, daß es patriotischen politischen Aktivismus im Rahmen des Verfassungsbogens gibt. Doch darauf wurde nie reagiert.

Was würde die IB an Verfassung und Grundgesetz ändern, würde sie regieren?

Sellner: Wir würden eher darangehen, die Verfassungswirklichkeit wiederherzustellen, denken Sie an die Meinungsfreiheit oder die Idee vom Volk als Quelle der Souveränität sowie den Schutz der Identität des Staatsvolks. Denn die Werte, die wir anstreben – Bewahrung unserer ethnokulturellen Identität und eine starke Leitkultur auf Basis unserer Traditionen – werden doch geradezu vom Grundgesetz und der Verfassung Österreichs gefordert. Wir haben also wahrlich überhaupt kein Interesse, diese zu beseitigen oder gar den „Staat zu stürzen“. Im Gegenteil: Es sind die Vertreter von Multikulti, die dessen Grundlagen – seine Grenzen und das Staatsvolk – angreifen. Wir dagegen sind doch die wahren „Verfassungsschützer“. 






Martin Sellner, der Sprecher der Identitären Bewegung in Österreich gilt auch bei uns als deren prägende Figur. Geboren 1989, studiert der Wiener Philosophie und Jura in seiner Vaterstadt.

Foto: Demonstration der Identitären Bewegung, angeführt von Martin Sellner am Sprechgerät des Megaphons (Wien, 2014):  „Was ich anklage, das ist die Zerstörung der Meinungsfreiheit sowie die illegitime Vernichtung einer demokratischen Opposition“