© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Es läuft nicht rund
Frankreich und seine Überseegebiete: Neukaledonien, Mayotte, Guayana & Co. machen Paris Sorgen
Friedrich-Thorsten Müller

Wenn eine einstige Kolonialmacht mit Überseegebieten auf praktisch sämtlichen Kontinenten seit Jahren wirtschaftlich stagniert, dann bleiben Zentrifugalkräfte und Spannungen nicht aus. Entsprechend traf sich Frankreichs Premierminister Edouard Philippe Ende März in Paris mit Vertretern der südostasiatischen Inselgruppe Neukaledonien zur Festlegung der Abstimmungsfrage beim für November geplanten Unabhängigkeitsreferendum. Vergangene Woche fand ein dreitägiger Gegenbesuch durch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron statt. 

Der Stolz Frankreichs kostet ein Vermögen 

Anfang des Jahres wurde Mayotte, vor der Küste Afrikas, in einem wochenlangen Generalstreik lahm gelegt, der sich letztlich gegen die illegale Einwanderung von anderen Komoreninseln richtete, deren Einwanderer dort inzwischen fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.

Eine ähnliche Situation im südamerikanischen Französisch-Guayana, der Heimat des europäischen Weltraumbahnhofs Kourou, wo in den vergangenen drei Jahren 12.000 Asylanträge gestellt wurden, was fünf Prozent der Bevölkerung entspricht. Auch hier treffen Arbeitslosigkeit und steigende Unsicherheit auf sinkende Kaufkraft, was von der Bevölkerung im vergangenen Jahr mit Streiks und der Blockade des Weltraumbahnhofs beantwortet wurde. Es ist kein Zufall, wenn Übersee-Frankreich im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2017 mit 24 Prozent Front-National-Stimmen drei Prozent über dem Landesschnitt lag. 

Und weil das alles noch nicht genügt, wurden die französischen Karibikinseln im vergangenen September von Hurrikan Irma heimgesucht. Auf Saint-Martin floh dabei die französische Verwaltung und ließ die Bewohner ohne Versorgung und Schutz vor Plünderern zurück. Das Vertrauen in Frankreichs Autorität wurde dabei tief erschüttert. Doch selbst auf der beschaulichen 6.000-Einwohner-Inselgruppe Saint Pierre und Miquelon im Nordatlantik, vor der Küste Neufundlands, läuft es nicht rund, da dort durch unvorteilhafte Fischereiabkommen mit Kanada spürbar Arbeitsplätze verlorengehen.

Doch es sind nicht nur politische Probleme, die Frankreich in seinen Überseegebieten zu schaffen machen. Auch fast sämtliche wirtschaftliche Eckdaten dort sind negativ, wie zum Beispiel die Arbeitslosigkeit, die im Schnitt doppelt so hoch ist wie in Kontinental-Frankreich. Das Budget des Übersee-Ministeriums ist entsprechend eines der wenigen, das im vergangenen Jahr ansteigen durfte, und zwar um satte 4,4 Prozent auf 2,02 Milliarden Euro. Unstrittig ist, daß dies nur der sichtbarste Teil der Transferzahlungen nach Übersee darstellt. Nicht unrealistisch dürften jährliche Gesamtkosten von über 30 Milliarden Euro sein, wie sie der Blogger „Rive gauche“ detailliert auflistet. Dies entspräche fast der Hälfte des französischen Staatsdefizits, das 2017 69,3 Milliarden Euro betrug.

Andererseits ist es aber der Stolz Frankreichs, immer noch eine Nation zu sein, in der wie beim Habsburger-Kaiser Karl V. „die Sonne niemals untergeht“. Immerhin 115.000 Quadratkilometer zusätzliche Landfläche und 2,9 Millionen Einwohner bedeuten die heute elf Überseegebiete, von denen fünf aufgrund ihrer Größe den Status eines Départements innehaben. Da es sich im wesentlichen um Inseln handelt, machen diese Frankreich außerdem zur weltweit zweitgrößten Seemacht, die so über eine maritime Wirtschaftszone von etwa elf Millionen Quadratkilometern verfügt.

An dieser Stelle treffen sich Nationalromantiker wie der stellvertretende FN-Vorsitzende Louis Aliot, der sich im März beim 16. Parteitag des Front National in Lille leidenschaftlich für den Verbleib Neukaledoniens und der übrigen Überseegebiete bei Frankreich aussprach, mit handfesten Wirtschaftsinteressen. 

„Kanaken“ lassen die Muskeln spielen

Niemand weiß bisher, welche Schätze – neben umfangreichen Fischbeständen – in diesen französischen Hoheitsgewässern auf dem Meeresboden und darunter ruhen. Was man bisher aber weiß, ist, daß Neukaledonien über 25 Prozent der bekannten weltweiten Nickel-Vorräte verfügt. Aufgrund dieses natürlichen Reichtums ist es kein Zufall, daß zuerst Neukaledonien – übrigens einzige Provinz „sui generis“, also mit Sonderstatus – aus dem französischen Staatsverbund ausscheren möchte. Daran ändert auch nichts, daß die französischen Finanztransfers die Nickelumsätze im Moment noch bei weitem übersteigen.

 Neukaledonien steht entsprechend, neben Französisch-Polynesien, als zweites von elf Überseegebieten Frankreichs auf der Uno-Liste der zu dekolonialisierenden Länder. Dies liegt daran, daß es dort im Gegensatz zu den meisten übrigen Überseegebieten mit 39 Prozent Bevölkerungsanteil noch eine große Zahl an Ureinwohnern gibt, die damit die größte Bevölkerungsgruppe in Neukaledonien stellen und seit Jahrzehnten mehrheitlich für ihre Unabhängigkeit eintreten. 

Diese Ureinwohner nennen sich „Kanaken“ und genießen seit dem Abkommen von Nouméa 1989 weitgehende Autonomierechte. Lediglich  die Bereiche Verteidigung, Sicherheit, Justiz und Finanzpolitik werden seither von Frankreich kontrolliert, alles andere verantworten lokale Behörden. So gilt es auch inzwischen als normal, daß auf Rathäusern vor Ort die kanakische Unabhängigkeitsflagge statt der französischen Trikolore weht. 

Für das Referendum wird darüber hinaus gelten, daß nur Franzosen, die vor dem Jahr 1994 in Neukaledonien angekommen sind, stimmberechtigt sein werden. Außerdem steht jetzt schon fest, daß die Unabhängigkeitsbefürworter mindestens zwei weitere Referendumschancen bekommen sollen, wenn die Volksabstimmung im kommenden November im Ergebnis nicht ihren Erwartungen entspricht. 

Hintergrund hierfür ist wiederum, daß die Geburtenrate der „Kanaken“ zwanzig  Prozent über dem Durchschnitt der Geburtenrate ganz Neukaledoniens liegt. Dadurch wird ihr Anteil an den Wahlberechtigten kontinuierlich weiter steigen.

Alles in allem bleibt es Frankreichs Dilemma, einerseits seinen Staatshaushalt ins Gleichgewicht bringen zu müssen, andererseits sich die Chancen und Prestigegewinne erhalten zu wollen, die seine Überseeprovinzen bieten. Je weniger diese aber auf die Finanztransfers aus Paris angewiesen sind, desto größer werden dort – und insbesondere im rohstoffreichen Neukaledonien – die Unabhängigkeitsbestrebungen. 

Übrigens machen selbst die korsischen Separatisten ihren nächsten Vorstoß zur Unabhängigkeit nur von der Erreichung des Ziels abhängig, ihren heutigen Lebensstandard ohne Frankreich sichern zu können.