© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Kodifizierte Freiheit
Libanon: Dank Proporz feiern der alte und neue sunnitische Premier Hariri, der christliche Präsident Aoun und Hisbollah-Chef Nasrallah ihre Wahlsiege
Jürgen Liminski

Der Libanon hat einen strategischen Vorteil: Es herrscht Gewissensfreiheit. Das unterscheidet das kleine Land der Levante von den arabischen Nachbarn. Aber die Gewissensfreiheit ist nicht nur durch die Landesgrenzen beschränkt, im Süden, im Herrschaftsgebiet der Hisbollah, findet man nur wenig Christen und Drusen. 

Nur selten hört man hier noch Kirchenglocken. Es ist gefährlich, unter den Schiiten zu leben. Sie halten nicht viel von Gewissensfreiheit. Sie ist auch begrenzt durch das politische System. Denn diese Freiheit ist kodifiziert. 

Die von der französischen Mandatsmacht ausgearbeitete Verfassung von 1926, modifiziert 1999, sieht einen genau austarierten Proporz der Glaubensgemeinschaften vor. Demnach ist der Präsident maronitischer Christ, der Premier ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit. Den Drusen sind Ministerposten reserviert und auch im Parlament sind die Sitze entlang der Konfessionen verteilt. 

Die Verhätnisse zwingen zum Konsens

Den Franzosen war klar: Frieden gibt es in diesem Landstrich mit seinen 18 Konfessionen nur, wenn jede irgendwie repräsentiert ist, wenn möglich nach Stärke der Bevölkerung. Die Christen stellten bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung. Die letzte Volkszählung datiert noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Danach hat man keine mehr durchgeführt, zum einen, weil die Verwaltung es nicht zuverlässig gestemmt hätte, zum anderen, um das labile Gleichgewicht des politischen Systems nicht zu gefährden. Dabei ist es geblieben und daran wird auch die Wahl vom vergangenen Wochenende nichts ändern.

 Das mag man in westlichen Staatskanzleien bedauern oder bewundern. Aber was sich über die Besonderheit des Libanon im Gegensatz zu allen anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sagen läßt, formulierte vor einigen Jahren der Nuntius Gabriele Caccia in einem Gespräch mit dem Berichterstatter so: „Der Libanon ist weder ein theokratisches noch ein laizistisches Land; es ist eine aus Minderheiten bestehende Zivilgesellschaft, in der die Gewissensfreiheit über den konfessionellen Grenzen steht. Deshalb haben wir es hier mit einem Konsens-System eigener Art zu tun.“ 

Weder die Christen noch die Sunniten und auch nicht die Schiiten stellen die Mehrheit. Würde eine Bevölkerungsgruppe offiziell zur Mehrheit, käme das historisch austarierte Gleichgewicht ins Wanken. Da die Wähler sich aber einschreiben müssen, läßt sich aus den Wahllisten ein Anhaltspunkt für die Größe gewinnen. Demnach stellen die Christen etwa 30, die Sunniten 25 und die Schiiten 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Hinzu kommen die Drusen mit etwa fünf Prozent. 

Diese Verhältnisse zwingen zu einem Konsens. Die Alternative ist der Krieg. Daran ist im Moment niemand interessiert. Deshalb gab es auch keine Attentate am Wahlsonntag. Denn trotz der Sicherheitsvorkehrungen wäre es natürlich leicht möglich gewesen für die Hisbollah, die die Armee weitgehend beherrscht. Aber heute betonen alle die Botschaft, die der Libanon für die Region und die Welt bietet: ein Land, in dem die Menschen trotz religiöser, kultureller und ethnischer Unterschiede gemeinsam in Frieden leben können – dank der Gewissensfreiheit.

Entscheidungen fallen in Riad und Teheran

Die Vorfestlegungen durch die Verfassung haben allerdings auch negative Effekte: Die Wahlbeteiligung ist niedrig. Nur knapp die Hälfte der wahlberechtigten 3,6 Millionen Libanesen – vermutlich liegt die Bevölkerungszahl eher bei sechs Millionen – ging zur Wahl. Jede Gruppe mobilisierte erfolgreich ihre Anhänger. Es war de facto eine Demonstration für die Mobilisierung der eigenen Massen. Entsprechend ausgelassen feierte man auch die Wahl, sowohl bei dem alten und neuen Premier Saad Hariri und seiner sunnitischen Zukunftsbewegung wie auch bei der Hisbollah um ihren Führer Hassan Nasrallah. 

Daß die Wahl nach neun Jahren erstmals wieder stattfand, war der eigentliche Sieg. Daran änderten auch die 66 unabhängigen und keiner Konfession zuzuordnenden Kandidaten nichts, sie werden allenfalls einen der 128 Sitze bekommen. Die anderen verteilen sich nach dem Konfessionsproporz auf die anderen gut 900 Kandidaten. Auch die 113 Frauen unter den Kandidaten leiden am rigiden System. Zwar genießen die Frauen im Libanon mehr Freiheiten als in allen anderen Ländern der arabischen Welt. Aber im Parlament und im politischen Leben sind sie kraß unterrepräsentiert.

 Auch die eher bemühten Berichte der in der Regel christenskeptischen und islamophilen Korrespondenten, die mit der Hisbollah und des mit den Schiiten verbündeten christlich maronitischen Präsidenten Michel Aoun von einem „Sieg“ reden, gehen an der Wirklichkeit der Machtverhältnisse vorbei. Diese entscheiden sich eben nicht im Präsidentenpalast Baabda oder in den Bunkern der vom Iran unterstützen Hisbollah im Süden von Beirut, sondern in Riad und Teheran. 

Die wirkliche Probe für den Libanon kommt, wenn das Atomabkommen mit dem Iran von Washington aufgekündigt wird und man mit Luftschlägen auf die iranischen Nuklearanlagen rechnen muß. Dann dürften die Mullahs ihre libanesischen Vasallen von der Kette lassen. 

In solchen Momenten werden im Libanon Helden geboren. Immerhin könnten die Wahlen ein kurzes Schlaglicht auf mögliche Helden werfen, zum Beispiel auf den jungen Maroniten Nadim Gemayel, Sohn des legendären Baschir Gemayel, des gewählten Präsidenten des Libanon, den die Syrer 1982 ermordeten. Nadim war damals vier Monate alt. 

Auf solchen jungen Politikern ruhen die Hoffnungen eines Teils der Bevölkerung. Sie könnten mit der Zeit das verkrustete System aufbrechen und wenigstens die grassierende Korruption eindämmen. Für alle aber gilt, mit Blick auf die Zukunft, was die bekannte Sängerin Yasmine Hamdan in einem ihrer beliebtesten Songs beschreibt: Ich habe Angst um mein Land. Es ist die Angst um die Freiheit, für die viele Libanesen in den vergangenen Jahrzehnten ihr Leben ließen.