© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Haltung gewinnen
Gefühl der Fremdheit und Verunsicherung: Zu Botho Strauß’ neuem Buch „Der Fortführer“
Thorsten Hinz

Mit der Gegenwart kann Botho Strauß sich auch in seinem neuem Buch nicht befreunden, was aber kein Grund für ihn ist, die Zukunft zu verdammen oder gar die Apokalypse herbeizuwünschen. Im Gegenteil. „Und der Schatten des Baumes wird für den Sohn dasein.“ Der Satz von Antoine de Saint-Exupéry – Verfasser der märchenhaften Erzählung „Der kleine Prinz“ –, den Strauß als Motto vorangestellt hat, ist eines der diskreten Leitmotive, die das Buch durchziehen.

Die „vögelsprühenden“ oder „sturmhaltigen“ Bäume sind Symbol des Lebens, der Beständigkeit und Kontemplation. Wie anders klang das bei dem Lyriker Peter Huchel, der 1962, in einer Phase politischer Repression und persönlicher Depression, geschrieben hatte: „Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden. / Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.“ Was dagegen Strauß vermittelt, ist eine „Transzendenz zur Hoffnung“ (Thomas Mann), welche die Krankheiten der Zeit überdauert.

Das zweite Motto, das der Autor gewählt hat, stammt vom Mystiker Meister Eckhart. Die im Original mittelhochdeutschen Sätze lauten in neuzeitlicher Übersetzung: „Nehme ich ein Stück von der Zeit, so ist es weder der Tag heute noch der Tag gestern. Nehme ich aber ein Nu, das begreift alle Zeit in sich.“ Das Zitat enthält offenbar das poetische Ideal des Dichters. Strauß will den mystischen, lyrischen, meinethalben proustschen Moment ergreifen: den bedeutsamen Zeitsplitter, der eine Ahnung vom Weltganzen enthält.

Für diese romantische Idee, die beispielhaft von Novalis im „Blütenstaub“ entfaltet wurde, bilden der Aphorismus, die scharfgestochene Miniatur, die Sentenz, das Fragment die angemessene Form. So wie hier: „Zuweilen stockt die Stunde, und man denkt: sieh an: ein Jetzt!“

Von den 15 Kapiteln sind 14 lediglich durchnumeriert. Das letzte hingegen trägt die Überschrift, die dem Buch den Titel gab. Der „Fortführer“ des mittlerweile 73jährigen Autors ist auch ein Buch über das Älterwerden. „Das Wetter: Intimpartner der Alten. Wenn alle gegangen sind, die ärgsten Enttäuschungen ausgestanden, die ‘Gesellschaft’ an Interesse verlor ...“ Das erzählende Ich unterscheidet souverän, was es ändern und bessern kann und was nicht. So kann es den Zeitläuften eine bescheidene wie stolze Haltung entgegensetzen: „Nur weil du keine Wolken verschieben kannst, willst du Mäuse zählen?“ 

Strauß bekennt sich zum Gefühl der Fremdheit und Verunsicherung. „Ist das noch die Welt, vor der man getrost die Augen schließen konnte? Oder geht man bereits unter jenen um, denen für ewig das Auge aufgesperrt bleibt?“ In einer kleinen Parabel zieht er eine vorläufige Bilanz. „Unverzagt sprach ich mein Lebtag zu lauter Abgewandten.“ Sein periodischer Rückzug ins Schweigen geschah in der Erwartung, daß die Stille einigen der Abgewandten desto lauter in den Ohren dröhnen würde. Einer wenigstens wendete sich um und stellte unwirsch die Frage „Warum?“ Der Schweiger wollte zu reden anfangen, doch der Frager wurde von einem Dritten sofort zur Ordnung gerufen. „‘Diesen Mann laß nur im Regen stehen’, befiehlt er.“

Der Künstler kann, so Strauß, kein Liberaler sein, weil er für seine Arbeit den Begriff des ihm Feindlichen benötigt. Das Feindliche ist das, was er bei konkurrierenden Künstlern als ästhetisches Ungenügen empfindet. Das Feindliche ist das ästhetische Ungenügen der konkurrierenden Künstler. Wer das als verkappte Rechtfertigung des Bürgerkriegs versteht, sollte sich erinnern, was Brecht und Thomas Mann, zwei Kongeniale, voneinander hielten. Brecht höhnte über die gelungenen „Kurzgeschichten“ des Großromanciers, und Mann revanchierte sich mit dem Kompliment: „Das Scheusal ist begabt.“

Am Fall des Philosophie-Dozenten Michael Landmann (1913–1984), Sohn der George-Jüngerin Edith Landmann, zeigt Strauß die Schwierigkeiten und Gefährdungen des Sezessionisten auf. Wem die Gegenwart keine Kränze flicht, sollte nicht auf Nachruhm hoffen. Ein Überbietungsgenie wie Nietzsche, das den Zeitgeist, die „herrschenden Diskurse“, aus den Angeln zu heben vermochte, ist eine Ausnahme. Landmann, ein intuitiver Denker und geistvoller Essayist, war an der stramm marxistischen Freien Universität in Berlin ein Außenseiter und ist heute so gut wie vergessen. Der zu Lebzeiten verfehlte Ruhm, so Strauß, wird einem von der Nachwelt als Schwäche ausgelegt. Auch das Erinnern baut dann „nur selten ein neues Kraftfeld des Aneignens auf“; die Aura des Scheiterns und der Vergeblichkeit bleibt an einem haften.

Das Schlußkapitel hebt bedeutungsschwer an: „Man ist Fortführer – oder es gibt einen gar nicht. Der Dichter führt vorangegangene Dichter fort. Der Dichter führt aber auch Leser fort, entfernt sie aus ihren Umständen fort, Belangen und Geschäften.“ Strauß gibt sich hier als unverhoffter Ironiker: Einerseits spielt er mit den unvermeidlichen Assoziationen an Georges „Dichter in Zeiten der Wirren“ und Max Kommerells „Der Dichter als Führer“ sowie mit dem Erregungspotential, das sie auf schlichte Gemüter ausüben. Andererseits verbindet er damit eine klassische Idee. Er weist dem Dichter die Aufgabe zu, auf die Wiedererweckung imaginativer Fähigkeiten, von Kultur-, Geschichts- und Bildungsbewußtsein, kurz: auf die ästhetische Erziehung des Menschen hinzuwirken.

Es gehört zu den leichtesten Übungen des Fortschrittsmenschen, sich über die Feststellung, daß früher alles besser war, zu belustigen und die Lacher auf seine Seite zu bringen. Für Strauß aber gehört diese Klage zu den Epochen, „die um die Überlieferung rangen“. Bei der Gelegenheit wird er sogar ungewohnt bissig und humorvoll. Auf die Frage, warum es keine Verbindung zwischen den Klugen und den Dummen gebe, weiß er die schlagende Antwort: „Weil die Dummen emanzipiert sind, die Klugen aber nicht.“

Er nimmt auch das dummdeutsche Adjektiv „weltoffen“ aufs Korn: „Das weltabgewandte Wohnen in der Welt kennen alle Religionen. Deshalb sollte zurückschrecken, wer sein Deutschland oder sein Pirmasens als weltoffen anpreist. Nicht wenige, die er einlädt, stört bei weltoffen der theophobe Akzent.“ Schließlich liefert er sogar eine indirekte politische Selbsterklärung: „Mein Weg war der der konsternierten Nachfrage … Wie denn? Wie ist’s nur möglich? Welch anderes System aber hätte es mir erlaubt, fast mein ganzes Leben systemwidrig zu verbringen?“ Er habe danach gestrebt, die medialen Mauern „mit Hilfe einiger poetischer Sprengkapseln zu durchlöchern“.

Die Fragmente, Aphorismen, Miniaturen und Sentenzen fügen sich zu einem Brevier, zu einer Handlungsanleitung, um eine Haltung zu gewinnen. Wer mag, kann sie konservativ nennen.

Bewegt und melancholisch, klüger und gelassener, legt man das Buch aus der Hand.

Botho Strauß: Der Fortführer. Rowohlt, Reinbek 2018, gebunden, 202 Seiten, 20 Euro