© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Dresden als geistige Lebensform
Literatur: Uwe Tellkamp erzählt in „Die Carus-Sachen“ von einer Gilde der Unangepaßten
Dirk Glaser

Auf Uwe Tellkamps Empörung über die Recht und Gesetz verhöhnende Förderung von Masseneinwanderung ins deutsche Sozialsystem hat Suhrkamp reagiert, indem der Verlag sich von seinem Autor „distanzierte“. Tellkamps zweiter, in der Literaturszene weitgehend unbekannter Verlag, ging einen Schritt weiter: Er hat ihn verraten.

Dieser Verlag, benannt nach der nahe Eckernförde an der Ostsee gelegenen Besitzung Eichthal, ist ein Ein-Mann-Unternehmen des dort residierenden, 78jährigen Gutsherrn Jens Uwe Jess. In dessen gediegenem Programm, das sich auf knappe, künstlerisch anspruchsvoll illustrierte Prosastücke konzentriert,  ragt Tellkamp, der dort 2010 mit einem Essay („Die Uhr“)  debütierte und dessen „Carus-Sachen“ dort im letzten Herbst erschienen sind, als bei weitem prominentester Autor heraus.

Die Verbindung des Schriftstellers zur tiefsten Schleswiger Provinz dürfte der Name Jess gestiftet haben. Der hat für Dresdner Bildungsbürger auch heute noch einen magischen Klang. Wolfgang Jess, ein Onkel des Eichthalers, 1945 zum Volkssturm eingezogen und seitdem verschollen, gründete 1920 in Dresden einen Verlag, der sich durch Inflation und Weltwirtschaftkrise überraschend unbeschädigt steuerte, um sich bis zur NS-Machtergreifung als Säule des Elbflorenzer Kulturlebens zu behaupten.

Dabei fuhr Wolfgang Jess dreigleisig. Zum einen ging es ihm um die Stärkung des Landesbewußtseins im ehemaligen Königreich, dem er mit Büchern zur reichen sächsischen Kunst- und Kulturgeschichte aufhalf. Ferner engagierte er sich für die literarische Avantgarde, die sich um Martin Raschkes Zeitschrift Die Kolonne (1929–1932) sammelte. Und schließlich kümmerte Jess sich um Neuausgaben klassischer Werke, die er zumeist in Dünndruck-Editionen, sorgfältig ediert, herausbrachte, darunter Ferdinand Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1926), Novalis’ erstmals vollständig geordneten „Fragmente“ (1929) sowie zwei Werke des Dresdner Ortsheiligen Carl Gustav Carus (1789–1869), dessen Goethe-Biographie und die „Neun Briefe über Landschaftsmalerei“. 

Gegenentwurf zum Typus des „Hamsterrad-Menschen“

Diese Bändchen zählten zur eisernen Ration derer, die sich in der „zugigen Sowjet-Provinz“ im Südosten des SED-Staates zum informellen Zirkel der „Carusianer“ zusammenschlossen. Darunter auch Tellkamps Vater, ein Chirurg, tätig an der, wie passend, „Medizinischen Akademie Carl Gustav Carus Dresden“.

Die autobiographische Vergegenwärtigung dieses Kreises führt wieder zurück in das von Tellkamps „Turm“ her vertraute Milieu des Reservats jener „Unangepaßten“ auf dem Weißen Hirsch, die, weil sie im Haus der Sprache weilten, „in der Tiefe der Zeit“ (Martin Raschke) und im „Raum der Überlieferung“ (Botho Strauß) wohnten. Solchen Rilke-Sound vermeidet Tellkamps staubtrockner Protokollstil allerdings. Er findet sich daher nur eine einzige Passage, die er dem Leser als Schlüssel zum kulturkritischen und damit zum aktualisierbaren politischen Verständnis dieser Reminiszenzen anbietet. 

Carus, den Professor der Entbindungskunst, Leibarzt des sächsischen Königs, Naturwissenschaftler und Lebensphilosophen, als Maler ein Schüler Caspar David Friedrichs, Wegbereiter der Psychoanalyse, in seiner Vielseitigkeit ein Wahlverwandter seines „Zentralgestirns“ Goethe, präsentiert Tellkamp ziemlich im Zentrum des Textes, als einen „aus der Gilde, zu der Namen wie Novalis, Büchner, Manley Hopkins, Wentworth Thompson, Gracq, Ponge, Fabre, Jünger, Benn gehören“. Geister, durchweg auch „Waldgänger“, die als Teil einer weit über die Gegenwart fortdauernden Bemühung um den Sinn des Lebens zu begreifen seien. Ihr Tun zeichne sich durch stilles, unaufgeregtes Fortwirken aus, durch „Zusammenschau der Phänomene, durch Beschäftigung mit der Metamorphose der Pflanzen, mit Knochenbau, Grabwespen, Käfern, Kieselsteinen, den verschiedenen Formen von Wimpern; meilenweit entfernt von Twitter-Aufgeregtheiten, Blogosphären-Geschwätz und Medien-Gedröhn, das alles, was es nicht kennt und in seiner Erfahrungspubertät schon einmal selbst erlebt hat, für wunder wie neu, schrecklich nie dagewesen hält“.

In knappen geistesgeschichtlichen Exkursen legt Tellkampf dem Leser nahe,  von diesem Gegenentwurf zum „modernen Typus des Hamsterrad- und Habenwollen-Menschen“, der den Dresdner Mikrokosmos der „Carusianer“ prägt, frei assoziierend zu Ludwig Klages und seinem „ganzheitlich-biozentrischen“ Weltbild zu gelangen. Klages hatte in den 1920ern keinen geringen Anteil an der Wiederentdeckung des Seelenforschers Carus, dessen romantische Naturphilosophie quer zum „atomisierend-logozentrischen“  Menschen- und Naturverständnis der kapitalistischen Industriegesellschaft lag, das besinnungslos auf Vernutzung und Ausbeutung angelegt war und das, wie ein Carus-Interpret, der Mediziner Carl Haeberlin, 1927 im Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft warnte, den Homo faber, nachdem dieser alle anderen Geschöpfe mit Ausnahme seiner Nutztiere ausgerottet haben wird, mit „Selbstvernichtung und Untergang“ bedrohe.

Tellkamp faktisch aus dem Programm geworfen

Bliebe noch zu klären, warum sich Tellkamp von seinem Eichthaler Verleger verraten fühlen darf. Ganz einfach: durch ein Interview, das Jens Uwe Jess dem Feuilleton der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (Ausgabe vom 28. März 2018) gab. Die Seele seiner Geburtsstadt, so lamentiert er dort, sei ihm fremd geworden. Wegen Pegida und dem „ewigen Blick ins Gestern, wo vermeintlich alles besser war“. Daß etwa die Sicherheitslage nicht nur Dresdens doch zweifellos „gestern“ besser war, ficht Jess nicht an, auch wenn die vom (noch) beschaulichen Eichthal nur 60 Kilometer entfernte Flensburger Innenstadt polizeilich seit kurzem als „gefährlicher Ort“ gilt. Deutschland solle ein offenes, nicht ein Land sein, „das sich abschottet“.

Wer die gegenwärtige Lage auf eine so primitive Alternative reduziert, muß dann auch Tellkamp faktisch aus seinem Programm werfen. Denn für ein neues Buchprojekt, „Dresden als geistige Lebensform“, dessen Titel eine Anleihe bei Thomas Manns berühmter Rede zum 700. Gründungsjubiläum Lübecks (1926) macht, steht bezüglich des Autors für den politisch korrekten Kleinverleger Jess eines schon sicher fest: „Uwe Tellkamp wird es nicht.“ 

Uwe Tellkamp: Die Carus-Sachen, Edition Eichthal, Eckernförde 2017, gebunden, 96 Seiten, Illustrationen, 18 Euro