© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Zeitschriftenkritik: Exit!
Aspekte der Wirklichkeit
Jens Knorr

Mathematiker glauben, die Wirklichkeit folge mathematischen Gesetzen, Naturwissenschaftler der Neuzeit glauben, die Natur folgt wissenschaftlichen Gesetzen, Volkswirtschaftler glauben an naturwissenschaftlich-mathematische Modelle, denen Staat und Wirtschaft nur folgen müßten, um zu funktionieren. In Fortsetzung früherer Arbeiten erneuert Claus Peter Ortlieb seine Kritik an den mathematischen Naturwissenschaften und ihrem „Mathematikwahn“: Mathematik und ihre Gesetze sind keine Eigenschaft der äußeren Natur, sondern Bestandteil unseres Erkenntnisinstrumentariums. Die Wahl des Instrumentariums folgt unserem limitierten Erkenntnisinteresse und beschränkt sich auf diejenigen Aspekte der Wirklichkeit, die sich mit diesem Instrumentarium erfassen lassen. Objektive Erkenntnis ließe sich als ein Vorgang der Abspaltung beschreiben, „nämlich der Abspaltung derjenigen Aspekte der Wirklichkeit, die den gesetzesförmigen Ablauf stören würden“. Ortliebs Kritik zielt explizit gegen die Annahme, daß sich Wirklichkeit ausschließlich mathematisch modellieren ließe. Sie richtet sich implizit gegen den orthodox-neoklassischen Mainstream in der Volkswirtschaftslehre mit seiner „mathematisierten Scharlatanerie“ und legt die Diskussion verschiedener theoretischer Modelle nahe, „die nebeneinander Bestand haben können, auch wenn sie sich widersprechen, weil sie unterschiedliche Aspekte erfassen“.

Die Zeitschrift Exit! (Untertitel: Krise und Kritik der Warengesellschaft) hat den Verlag gewechselt und erscheint nunmehr nur noch einmal im Jahr. Das aktuelle Heft 15 übt Wissenschafts- und Erkenntniskritik an der unkritischen Verwendung der mathematisch verfaßten Wissenschaften, die als „exakte“ oder „objektive“ gelten. Thomas Meyer skizziert „Facetten von Big Data, der Sozialphysik, dem Internet der Dinge“ und hebt über „die daran anschließende, eher linksbürgerlich anklingende Kritik auf einer weitgehend phänomenologischen bzw. empirischen Ebene“ hinaus „den Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Form- und Prozeßzusammenhang“. Die Big-Data-Sozialphysik, die Prognostizierung und Optimierung sozialen Verhaltens, verdrängt in den Regimes des permanenten Ausnahmezustands, den „Postdemokratien“ (Colin Crouch), den politischen Diskurs. Sie entlarvt sich als Technik der sozialen Kontrolle und Repression – und darin liegt ja auch der Grund ihrer Entwicklung. Allerdings: „Die Allmacht des Großen Bruders“, hofft Meyer, „endet in seiner mangelnden Finanzierbarkeit.“

Andreas Urban befaßt sich mit „Alter(n) und Wert-Abspaltung“, und Roswitha Scholz formuliert wertabspaltungskritische Einwände gegen „Neuen Realismus“, „Spekulativen Realismus“ und „Akzeleration“. 

Der wissenschaftliche Ertrag der Aufsätze verhält sich je umgekehrt proportional zu den Bestrebungen ihrer Autoren, Wertkritik und Wertabspaltungskritik als reine Lehre zu befestigen.

Kontakt: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, zu Klampen Verlag, Röse 21, 31832 Springe. Das Einzelheft kostet 22 Euro, im Abonnement 17 Euro.

 www.exit-online.org