© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Huhu, ist da noch jemand?
Ländliche Räume: Ganze Regionen überaltern und dünnen aus / Bewohner fühlen sich abgehängt
Christian Vollradt

Plötzlich Hunger oder Durst – doch der Kühlschrank ist leer? Wer in einer zumindest mittelgroßen Stadt lebt, für den ist diese Situation keine wirkliche Herausforderung. Irgendwer in der näheren Umgebung hat garantiert geöffnet, so daß sich auch ein Vorratsmuffel schnell etwas besorgen kann: ein bis in den Abend geöffneter Supermarkt, ein Kiosk oder eine Tankstelle, eine Kneipe oder gar ein Restaurant. Bewohner von Metropolen können sich sogar – dank der „Spätis“ in Berlin zum Beispiel  – nahezu rund um die Uhr mit dem Notwendigsten versorgen. 

Nicht so auf dem Land. Supermarkt, Kiosk, Tankstelle? In vielen Dörfern heißt es dann: Fehlanzeige. Selbst der früher ansässige Tante-Emma-Laden hat meistens schon längst geschlossen, gelegentlich weist noch eine verblichene Langnese-Werbung auf die frühere Existenz hin. Glücklich kann sich schätzen, wer wenigstens einen zeitweise geöffneten Hofladen oder einen Verkaufswagen aufsuchen und im Dorfgemeinschaftshaus mal ein Bierchen trinken kann. 

Reduzierte Einkaufsmöglichkeiten mögen noch die eher banalen Probleme des ländlichen Raumes sein. Zumindest für jüngere und mobile Menschen. Anderes wiegt da schon weit schwerer.  

„Menschen fühlen sich von Politik im Stich gelassen“

Fehlende oder sich verschlechternde Infrastruktur, eine geringe Ansiedlung von Betrieben, dadurch fehlende Arbeitsplatzangebote; eine ausgedünnte Gesundheitsversorgung, lange Wege, um zur nächsten Behörde, Schule oder Arbeitsstelle zu kommen. In der Folge dünnen ganze Landstriche aus, überaltern, weil die Jungen wegziehen. Während in vielen Städten oder im Umland urbaner Zentren die Mieten steigen und bezahlbarer Wohnraum knapp wird, veröden anderswo Dörfer, herrscht Leerstand, bleiben Immobilien nahezu unverkäuflich. „Die Abwanderung insbesondere junger Menschen betrifft praktisch flächendeckend die ländlichen Räume Deutschlands und ist kein ostdeutsches Thema mehr“, hieß es in einer Studie für den Verband der Wohnungswirtschaft aus dem vergangenen Jahr. Danach hätten etwa die Hälfte der 402 Landkreise und kreisfreien Städte zwischen 2010 und 2014 junge Menschen durch Abwanderung verloren. 

 Junge Menschen sind auf dem Land bereits in der Minderheit. „Die Grunderfahrung dieser Geburtsjahrgänge ist, daßsie wenige sind, daß sie zu wenige sind, um eine Stadt zu prägen“, heißt es. Kneipen und Kinos machten dicht, Freunde seien fort. Und die, die bleiben, müssen sich mit maroden Straßen oder langsamem Internet herumschlagen. Das wiederum lähmt auch die – logischerweise seßhafte – Landwirtschaft, immerhin in vielen ländlichen Regionen der wichtigste Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber. Doch moderne Agrarbetriebe sind in hohem Maße digitalisiert. Aber das sogenannte „smart farming“ (JF 47/15) funktioniert nur mit schneller Datenübertragung.

Um die Schere zwischen Stadt und Land nicht noch größer werden zu lassen, hat sich die Politik eine Vielzahl von Förderprogrammen ausgedacht – mit klingenden Namen wie Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW), die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK) sowie das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE). Letzteres mit den Teilprogrammen LandMobil, LandForschung, LandGesundheit, LandStartUp, LandEhrenamt Land.Digital, LandKULTUR und Land(auf)Schwung. Als würde die Landluft bei Einzug in Behördenstuben in erster Linie Bullshit-Begriffe hervorbringen ...

Manchen Politiker scheint in erster Linie die Sorge umzutreiben, daß sich die Mißstände weiter an den Wahlurnen bemerkbar machen. „Gerade in ländlichen und strukturschwachen Räumen fühlen sich immer mehr Menschen abgehängt und von der Politik im Stich gelassen“, stellte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff zu Beginn der Woche in einem Gastbeitrag für die FAZ fest. Schwindendes Vertrauen mache die AfD stark. Klar, daß sich auch die Bundestagsneulinge des Themas längst angenommen haben (siehe Interview). Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag rund 1,5 Milliarden Euro mehr bereitstellen, um „die Daseinsvorsorge im ländlichen Raum zu erhalten, den demographischen Wandel abzufedern und auch das Ehrenamt zu stärken“. Doch schon gibt es ein Kompetenzgerangel, in wessen Haus dieser Etat gehört: ins Landwirtschaftsministerium von Julia Klöckner (CDU) oder ins Heimatministerium von Horst Seehofer (CSU). 

Immerhin ein praktischer Vorstoß  im Kampf gegen Überalterung und die Landflucht der Jugend: Das eigentlich im April ausgelaufene Modellprojekt „Mopedführerschein mit 15“ wurde in den neuen Bundesländern verlängert. Damit könnten Jugendliche die weiten Wege zur Schule oder zur Ausbildung auch dort zurücklegen, wo der öffentliche Personennahverkehr die „Mobilitätsbedürfnisse“ nicht erfülle, heißt es im Bundesverkehrsministerium.