© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Vom Dorf auf die großen Bühnen
Eine Erinnerung an die schwedische Opernsängerin Birgit Nilsson zu ihrem hundertsten Geburtstag
Markus Brandstetter

Die schwedische Sopranistin Birgit Nilsson wurde am 17. Mai 1918 in einem Dorf mit 500 Einwohnern in Südschweden geboren, in dem es außer einer Kirche und ein paar Bauernhöfen drum herum nur Kühe, Felder, Wiesen und Wälder gab. Die Eltern der Sängerin waren in sechster Generation einfache Bauern, die Kartoffeln und Rüben anbauten und von ihrem einzigen Kind erwarteten, daß dieses einst den elterlichen Hof übernehmen würde.

Doch dann schenkten sie der dreijährigen Birgit ein Spielzeugklavier, auf dem diese ohne jeden Musikunterricht anfing, Melodien zu spielen. Rasch stellte sich heraus, daß La Nilsson, wie sie auf dem Zenit ihrer späteren Weltkarriere genannt wurde, außerdem über das absolute Gehör verfügte und eine schöne, kräftige Sopranstimme hatte. Der Chorregent ihrer Dorfkirche empfahl ihr, Gesangunterricht zu nehmen, worauf das Mädchen vom Lande an der Königlichen Musikakademie in Stockholm vorsang und 46 Mitbewerberinnen auf die Plätze verwies, was ihr ein Gesangsstipendium an der Akademie eintrug.

Immer wieder singt sie in Bayreuth Wagner-Partien

1946 debütierte sie als Agathe in Carl Maria von Webers „Freischütz“ an der Königlichen Oper Stockholm. Als dabei der deutsche Dirigent Leo Blech sie bei den Proben ein paarmal grob anschnauzte, dachte sie, wie sie in ihren gleichermaßen witzigen wie ehrlichen Memoiren Jahrzehnte später schrieb, ernsthaft daran, sich in den Stockholmer Hafen zu werfen. Es muß das letzte Mal in ihrem Leben gewesen sein, denn von da an ging es nur noch aufwärts.

Das fängt damit an, daß sie gegen harte Konkurrenz von der Stockholmer Oper als festes Ensemblemitglied engagiert wird. Zehn Jahre lang, bis 1958, wird sie dem Opernhaus der schwedischen Hauptstadt angehören. So etwas ist gut für eine junge, ehrgeizige Sängerin, denn da lernt sie in Ruhe das Repertoire kennen, probt die Zusammenarbeit mit Dirigenten und Regisseuren unterschiedlichster Couleur und wird nicht, wie im später üblichen Festspieltourismus, dem auch die Nilsson sich irgendwann unterwerfen wird, von einem Festival zum nächsten gehetzt und verbringt dabei mehr Zeit in Flugzeugen und Hotelzimmern als auf der Bühne.

Als sie 1948 für eine erkrankte Diva in der Rolle der Lady Macbeth einspringt, ist die Situation perfekt: das Mädchen vom Bauernhof wird über Nacht zum Star. Die schwedischen Kritiker sind außer sich, ein solches Debüt hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Von da an kann Birgit Nilsson sich ihre Rollen aussuchen. Blutjung singt sie die Marschallin im „Rosenkavalier“, die Senta im „Fliegenden Holländer“, Donna Anna („Don Giovanni“), die Titelrolle in Straussens „Ariadne“ und Puccinis „Tosca“, Elisabeth und Venus im „Tannhäuser“, die Sieglinde in der „Walküre“ und die Brünnhilde in „Siegfried“. Für eine junge Sängerin, die ihren Akt erst noch finden und ihre Stimme noch durchbilden muß, sind das ungeheuer schwere Rollen, insbesondere, wenn man weiß, daß Nilsson sowohl die Sieglinde als die Brünnhilde in nur drei Wochen lernen mußte. Und kurz danach singt sie bereits die längste und schwierigste Rolle im ganzen Opernbetrieb überhaupt: die Isolde im „Tristan“.

In diesen enorm aktiven und außerordentlich anstrengenden Jahren zeigen sich bereits die Qualitäten, für die Birgit Nilsson für den Rest ihres Leben berühmt sein wird: Sie ist unkompliziert, enorm belastbar, hungrig auf Herausforderungen, besessen von ihrer Arbeit und nebenbei auch noch gesund und stark wie ein Pferd. Und sie hat ein hochdramatisches Organ, mit dem sie, so wie Wagner es verlangt, stundenlang mit voller Power singen kann.

Auseinandersetzungen mit Herbert von Karajan

Das internationale Opern-Geschäft ist ein Dorf, und Nilssons Vorzüge sprechen sich bald herum. 1954 debütiert sie als Elsa in Bayreuth, in den Jahren danach singt sie in Chicago, am Londoner Covent Garden, an der Mailänder Scala und immer wieder in Bayreuth, wo sie zur „Assoluta des Wagner-Gesangs“ (Dieter David Scholz) avanciert. Zwischen 1957 und 1970 tritt sie dort fast jedes Jahr auf und singt die Ortlinde, die dritte Norne, alle drei Brünhilden und natürlich die Isolde. Als sie 1970 in Bayreuth zusammen mit dem Tenor Wolfgang Windgassen, der ebenfalls von der Opernbühne abtritt, in ihrem letzten „Tristan“ singt, ist der Festspielleiter Wolfgang Wagner dermaßen erschüttert, daß er eine Zeitlang nicht weiß, ob es je wieder einen „Tristan“ in der Wagner-Stadt geben wird. Länger als in Bayreuth wird Birgit Nilsson nur an der New Yorker Met singen, wo sie zwischen 1959 und 1983 223mal in sechzehn Rollen auftritt, obwohl sie Rudolf Bing, den despotischen Intendanten der Met, nicht mochte, weil sie diesem Erhöhungen ihrer Gage stets zäh abringen mußte.

Persönlich war Nilsson voller Witz und Humor und einer Party selten abgeneigt. Aber sie war auch eine knallharte Geschäftsfrau, die genau wußte, was sie wollte. Legendär waren ihre Auseinandersetzungen mit berühmten Dirigenten, insbesondere mit Herbert von Karajan, den sie wohl bewunderte, aber nicht mochte. Die spitze Zunge der Nilsson und ihre Schlagfertigkeit waren in den Opernhäusern der Welt bekannt und gefürchtet. 

Bei einer Klavierprobe für „Tristan und Isolde“ mit Karajan riß einmal Nilssons Halskette, und die Perlen daran kullerten durch den ganzen Probenraum. Karajan, der trotz seiner autokratischen Art immer ein perfekter Gentleman war, rutschte daraufhin auf den Knien durch das Zimmer und sammelte die Perlen nacheinander wieder ein. Als er sie Nilsson überreichte, fragte er süffisant: „Ist das Modeschmuck? Oder sind das die echten Perlen, die Sie mit ihrer sagenhaften Mailänder Gage gekauft haben?“ Worauf Birgit Nilsson zurückgab: „Die sind natürlich falsch, weil ich sie mir von Ihrer Wiener Gage gekauft habe.“ Karajan hat sich für diesen Hieb mit der lustigen, allerdings sehr gemeinen Bemerkung gerächt, die statueske und seit der Lebensmitte ziemlich schwergewichtige Birgit Nilsson könne den – fratzenhaft häßlichen – Polizeichef Scarpia in Puccinis „Tosca“ jederzeit ohne Make-up singen. 

Nilsson nahm 1984 ihren endgültigen Abschied. Und danach passierte etwas Außerordentliches: Die Diva, die in Wien – „meine Lieblingsstadt“ –  ebenso zu Hause war wie in Mailand, London oder New York und dank ihres erheblichen Vermögens überall da ein glanzvolles Leben hätte führen können, zog sich nach Skåne zurück, in dieselbe südschwedische Provinz, in der sie aufgewachsen war. Begründet hat sie dies mit einem Ausspruch ihrer Mutter, die zu Nilsson immer gesagt hatte: „Bleib der Erde, wo du aufgewachsen bist, nahe. Denn dann tut es nicht so weh, wenn du einmal umfällst.“ Birgit Nillson starb 2005.

Weitere Informationen zu Birgit Nilsson im Netz unter:  www.birgitnilsson.com/de-de