© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Staat und religiöse Neutralität
Die Gabe der Unterscheidung
Manfred Brunner

Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, und aus ihm wird zudem eine Pflicht des Staates zur religiösen Neutralität abgeleitet. In letzter Zeit wird „Glaubensfreiheit“ zunehmend als Kampfruf verwendet, wenn es darum geht, eine Beurteilung des Islam am Menschenbild und am Staatsverständnis des Grundgesetzes zu verhindern. Als Kampfruf aber auch, wenn unter den Aspekten der negativen Glaubensfreiheit und der religiösen Staatsneutralität die Anbringung des Kreuzes in staatlichen Einrichtungen oder eine Bevorzugung der christlichen Religion gebrandmarkt werden soll. Unübersehbar wird versucht, den Begriff der Glaubensfreiheit in das Arsenal der Totschlagargumente einzureihen, mit denen die differenzierte Betrachtung eines Sachverhalts von Anfang an verunmöglicht werden soll. Sehr oft wird dabei der Artikel 4 des Grundgesetzes in seiner Aussage und Bedeutung falsch eingeordnet. Es ist daher sicher sinnvoll, sich näher mit diesem Artikel des Grundgesetzes zu befassen, um den grassierenden Fehldeutungen entgegentreten zu können.


Artikel 4 Grundgesetz [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsdienstverweigerung]

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleitet.

(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.


Für die Beurteilung dieses Freiheitsrechtes ist zunächst wichtig, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sich alle Grundrechte einander gegenseitig begrenzen. Die Grundrechte stehen zueinander in einem Konkurrenz- und Spannungsverhältnis. Diese grundrechtliche Gesamtschau präzisiert der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, in bezug auf die Thematik Islam und Religionsfreiheit wie folgt: „Gegen Terrorattacken und kriminelle Taten muß sich ein Rechtsstaat immer verteidigen. Aber der Islam wirft in Deutschland schon vorher drei Grundfragen auf, deren Beantwortung in der öffentlichen Diskussion noch aussteht: Wie steht der Islam zur Gleichberechtigung der Frau? Wie geht er mit Menschen um, die nicht seiner Glaubensrichtung angehören? Und: Hält er sich für legitimiert, an die Gestaltung des Staates bestimmte, theologisch motivierte Ansprüche zu stellen?“

Und er fährt fort: „Wenn sich die Fakten im Staat ändern, muß neu nachgedacht und gewichtet werden, vor allem um Leib, Leben und Freiheit der Bevölkerung zu verteidigen; diese Rechtsgüter sind ebenso grundrechtlich geschützt.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. August 2017)

Mit dem religiösen Neutralitätsgebot des Staates ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weder gemeint, daß der Staat dem einzelnen eine religionsfreie Öffentlichkeit zubilligt noch daß er alle Religionen gleich behandeln muß.

In einem nächsten Gedankenschritt ist es wichtig, das aus Artikel 4 abgeleitete religiöse Neutralitätsgebot des Staates richtig zu definieren. Gemeint ist damit, daß die Rechtsordnung nicht einen bestimmten religiösen oder anti-religiösen Standpunkt für alle Menschen seines Geltungsbereiches verpflichtend vorschreiben darf (dazu ausführlich Axel Freiherr von Campenhausen, in „Handbuch des Staatsrechts“, Bd. VI). Gemeint ist damit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber nicht, daß die Trennung von Staat und Kirche dem einzelnen eine religionsfreie Öffentlichkeit zubilligt. Der einzelne kann nicht verlangen, im öffentlichen Raum von christlich geprägten Feiern, wie dem Weihnachtsfest und dessen Gestaltung, „verschont“ zu werden. Es ist deshalb auch ganz widersinnig, daß Kindergärten und Schulen traditionelle Feste und Umzüge „entchristlichen“. Solche Verhaltensweisen haben nichts mit dem religiösen Neutralitätsgebot des Staates zu tun, sondern fallen in die Rubrik verwirrter oberflächlicher Anpaßlerei.

Mit dem religiösen Neutralitätsgebot des Staates ist auch nicht gemeint, daß der Staat alle Religionen gleich behandeln muß. Der Staat muß natürlich jeder einzelnen Kirche die Verbreitung der eigenen Lehre und die Schaffung eigener Organisationsformen ermöglichen. Jedoch: „Die These, wegen der gleichen Religionsfreiheit für jedermann müsse der Staat religiöse Äußerungen und Institutionen in all ihren Wirkungen undifferenziert gleich behandeln, ist falsch“, so der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof. Paul Kirchhof führt dazu Folgendes aus, und die Länge dieses nachfolgenden Zitats scheint gerechtfertigt, weil der argumentierende Leser mit den Ausführungen eines hoch angesehenen ehemaligen Bundesverfassungsrichters größere Durchschlagskraft hat, als wenn diese Gedanken von einem Münchner Rechtsanwalt vorgetragen werden:

„Wenn eine Religion die Gleichheit jedes Menschen betont und insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau fordert, eine andere von der Frau ein lebenslanges Dienen erwartet, verhilft die eine Religion der Gleichberechtigung zur tatsächlichen Wirkung, während die andere diese behindert. Auch die kirchlichen Lehren zur Religionsfreiheit oder Staatsreligion, zum Individual- oder Volkseigentum, zu Nächstenliebe oder Egoismus, zu Frieden oder Krieg begründen fundamentale Unterschiede in der inneren Bereitschaft der Menschen zu Freiheit und Demokratie. Würde der Staat diese Unterschiede übergehen, würde er durch Beurteilungs- und Entscheidungsschwäche seine eigene Zukunft als Verfassungsstaat gefährden. Der Staat wähnte sich gegen kirchlichen Einfluß immun, geriete aber unter kirchlichen Änderungsvorbehalt. Gerade ein Staat, der Freiheit gewährt und deswegen Unterschiede erwartet, darf sich der Bedeutung dieser Unterschiede – den Ergebnissen betätigter Freiheit – für andere nicht verschließen: Er garantiert Berufsfreiheit, läßt aber nur den medizinisch Qualifizierten zum Arztberuf zu, schützt die Eigentümerfreiheit für jedermann, besteuert aber je nach Eigentumsunterschieden, garantiert eine gleiche Wissenschaftsfreiheit, zieht aber nur die qualifizierten Wissenschaftler zu bestimmten Aufgaben heran. Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen. Der Freiheitsgarant achtet die Freiheit, indem er diese Unterschiede zur Kenntnis nimmt.“ (Paul Kirchhof: „Die Freiheit liegt im Unterschied“, Bayernkurier 1/2015)

Es zeigt sich, daß es wichtige verfassungsrechtliche Gründe für die Abwehr einer falsch verstandenen Definition von Religionsfreiheit gibt. Diese Abwehr richtet sich gegen uns allen bekannte politische Apologeten, was uns aber nicht den Blick verstellen soll, daß es bei sehr vielen Muslimen in Europa trotz entgegenstehender Aussagen des Korans eine pragmatische Akzeptanz und eine faktische Anerkennung der Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes und ihrer individualrechtlichen Konsequenzen gibt, die der säkulare Rechtsstaat allen seinen Bürger abverlangen muß. Unser Staat muß sich, soweit dies notwendig ist, bemühen, aus dieser faktischen Akzeptanz eine echte Unterstützung werden zu lassen. Nur so könnte die grundsätzliche Differenz zwischen göttlichem, übergeordnetem Scharia-Recht und unserer säkularen Verfassungs- und Rechtsordnung überwunden werden.

Diese abstrakte Aussage will ich aus persönlicher Erfahrung konkretisieren. Ich werde nicht der einzige Anwalt sein, der über Erlebnisse mit eingeschüchterten islamischen Mandantinnen berichten kann, die in der Hauptverhandlung frühere Aussagen widerrufen, weil ihnen in einem vorherigen religiösen Rechtsakt nachdrücklich bedeutet wurde, daß familiäre Auseinandersetzungen vor einem staatlichen Gericht nichts zu suchen hätten. Es darf staatlicherseits nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß der Grundrechtsschutz einer Religion davon abhängig ist, die Grundsätze der Rechtsgemeinschaft oder gar die Rechtsgemeinschaft selbst nicht in Frage zu stellen.

Es darf staatlicherseits nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß der verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz einer Religion davon abhängig ist, die Grundsätze der Rechtsgemeinschaft oder gar die Rechtsgemeinschaft selbst nicht in Frage zu stellen.

Ein Punkt besonderer Bedeutung erscheint mir auch, daß die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als eine Grundstruktur unseres Verfassungsstaates verdeutlicht wird. Zu Recht ist von bedeutenden Staatsrechtlern wie Ernst Forsthoff und Ernst-Wolfgang Böckenförde festgestellt worden, daß die freiheitstiftende, rechtsstaatliche Verfassung mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft steht und fällt, und diese Unterscheidung Bedingung der individuellen Freiheit ist. Es ist jene Vielheit von gewachsenen und sich selbst erzeugenden Strukturen, in der in einem Prozeß von Versuch und Irrtum ständig neue Wege und Methoden erprobt werden, die zu jener freien Gesellschaft führen, die den Rahmen staatlicher Funktionsarchitektur ausfüllt (siehe Hans Heinrich Rupp, in „Handbuch des Staatsrechts“, Bd. I). Eine Religionsgemeinschaft, die sich mit einem eigenen Rechtsanspruch und einem über ein Lebensangebot hinausgehenden Lebensgestaltungsanspruch ausgestattet sieht, kollidiert mit dem Gesellschaftsverständnis des Grundgesetzes.

Wenn wir gegenüber dem Islam auf die Staatsvorstellung und das Menschenbild des Grundgesetzes verweisen, müssen wir ehrlicherweise immer auch die Frage stellen, ob unsere Gesellschaft selbst diesem Idealbild gerecht wird, denn ansonsten bringen wir uns in eine recht eigenartige Position. Lebt unser Staat die auf dem christlichen Menschenbild beruhenden Grundwerte seiner Verfassung?

Wenn Joseph Ratzinger bereits 1986 in seinem Buch „Kirche, Ökumene und Politik“ darauf hingewiesen hat, daß sich der in unserem Staatsverständnis widerspiegelnde biblische Grundbegriff der Freiheit durch den weiteren biblischen Grundbegriff des Freimutes ergänzen lassen muß – Freimut, der den Freien ermutige, seine Gedanken frei zu denken und darüber frei zu reden –, ist dies ein Beispiel, daß wir nicht weit suchen müssen, wo sich zwischen Verfassungsgebot und Verfassungswirklichkeit Gräben auftun. 






Manfred Brunner, Jahrgang 1947, ist selbständiger Rechtsanwalt mit dem Arbeitsschwerpunkt Verfassungsrecht. Von 1989 bis 1992 war er Kabinettschef des Europäischen Kommissars für den Binnenmarkt, Martin Bangemann, in Brüssel.

Foto: Justitia-Skulptur vor einem Kirchturm auf dem Römerberg in Frankfurt: Es gibt wichtige verfassungsrechtliche Gründe für die Abwehr einer falsch verstandenen Definition von Religionsfreiheit