© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Das Nationalgefühl kultivieren
Naturerleben: Eine sehenswerte Ausstellung in der Alten Nationalgalerie in Berlin widmet sich dem Thema „Wanderlust“
Fabian Schmidt-Ahmad

Durch glückliche Fügung erlangte die Alte Nationalgalerie in Berlin das Ausleihrecht auf eine Ikone am Wegesrand deutscher Selbstfindung. Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ logiert bis zum 16. September in Berlin. Anlaß für die Gruppe um Kuratorin Birgit Verwiebe, in einer großangelegten Ausstellung dem Thema „Wanderlust“ buchstäblich nachzugehen. Gezeigt werden neben dem Friedrich-Gemälde, das „die Idee vom Aufsteigen, vom Rasten und Schauen als Bild des Lebens, als Lebensreise genial zum Ausdruck“ bringt (Wandtext), Werke unter anderem von Carl Blechen, Karl Friedrich Schinkel, Johan Christian Dahl, Richard Wilson, Christen Købke, Gustave Courbet, Iwan Kramskoi, Ferdinand Hodler, Auguste Renoir, Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Dix und Ernst Barlach.

Mit dem ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert setzte unter Künstlern eine ungewohnte Freude am Wandern ein. Zuvor war Wandern eine zu meidende Gefahrenquelle. Wer konnte, bewegte sich hoch zu Roß fort und blickte herab auf den, der das nicht konnte. Auch der Pilger zeigte damit eher Demut vor Gott, weniger Lust am Gehen. Das änderte sich im 18. Jahrhundert, seit der französische Schriftsteller, Philosoph und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau 1750 mit seiner Skandalschrift „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“ die europäische Zivilisation unter Generalverdacht der Entartung stellte. Der Urschrei aller Aussteiger, Naturromantiker und Fremdenverherrlicher verhallte nicht ungehört.

Das Echo war ein „Zurück zur Natur“. Hier galt das einfache, dicht der Natur angeschmiegte Leben als gehaltvoll gegenüber dem kulturellen Bombast eines höfischen Absolutismus. Entsprechend stand der Wandersmann, der sein Gesicht dem Wetter aussetzte, auf einmal über dem abgeschirmten Reisenden in der Kutsche. So dürfte Naturerleben das erste Motiv für die erwachende Wanderlust gewesen sein. Von diesem Bedeutungswandel ausgehend erschließt die Ausstellung verschiedene Themenräume: Entdeckung der Natur, Lebensreise, Künstlerwanderung, Spaziergänge, Wanderlandschaften nördlich der Alpen, Sehnsuchtsland Italien. 

Insbesondere bei letzterem, nach Sturm und Drang der Naturverherrlichung, konnte sich die Antikenliebe der Deutschen Klassik ausleben. Der gefahrenreiche Stieg über die Alpen ins Sehnsuchtsland Italien wird so gleichsam zur äußeren Widerspiegelung eines Bewußtseinssprungs. Und was kam nach diesem Fernweh? Hier wird es verschwurbelt. Museumsleiter Ralph Gleis erwähnte bei der Eröffnung die „Sehnsucht nach Überschaubarkeit in einer komplexer werdenden Welt“ als ein Motiv, doch schlußendlich sei dieser „Eskapismus“ nicht wesentlich.

Überhaupt habe die Ausstellung „nichts mit einem genuin deutschen Thema zu tun“, sondern zeige dessen „Internationalität“ und sei „bereits von Beginn an ein europäisches Thema“ gewesen. Sekundiert wurde Gleis von Verwiebe, die auf die Vielschichtigkeit der Ausstellung hinwies. Ihr persönliches Anliegen sei die Frauenemanzipation gewesen. So zeige das Bild „Bergsteigerin“ von Jens Ferdinand Willumsen von 1912, das sie als Kontrapunkt zum Wanderer im Nebelgebirge sieht, das veränderte Rollenverständnis. 

Zu sehen ist auf dem Monumentalbild Edith, die zweite Frau des dänischen Malers, leger in Kleidung der Reformbewegung. Sie blickt seitlich in eine dem Betrachter verborgene Ferne. Unverkennbar ist hier der Einfluß von Willumsens Freunden Paul Gauguin und Edvard Munch. Der Begleittext weiß von der Hoffnung auf Gleichbehandlung zu berichten. „In Dänemark erfüllte sich ein Teil dieser Erwartungen, als das Land als eines der ersten 1915 das allgemeine Frauenwahlrecht einführte.“ Vielleicht blickte Edith auch nur in die Zukunft ihrer Ehe. Das Paar trennte sich. Drollige Verrenkungen vor der Ideologie des Zeitgeistes, die bei allem Eskapismus nichts nutzten.

Ein Journalist warf sich auf der Pressekonferenz in die deutscheste aller Posen, den erhobenen Zeigefinger, und mahnte das berühmte dunkle Kapitel der Deutschen an, das die Ausstellung nicht berücksichtige. In der Tat sind Romantik und Wandervogelbewegung zwar in ihren Werken präsent, jedoch fehlt der inhaltliche Bezug zur frisch entdeckten Lust am Wandern. Dabei ist dieser ziemlich offenkundig. Wenn nicht mehr ein dynastischer Herrscher, sondern das Volk selbst Träger sozialer Identifikation ist, wie soll das gehen?

Zuvor genügte es, wenn sich der Herrscher seinen Untertanen als Symbol sozialer Einheit periodisch zeigte und entsprechend künstlerisch verherrlicht wurde. Wenn aber das Volk selbst diese Einheit sein soll, ohne gesalbten Kristallisationspunkt, so muß sich der Bürger aktiv ein Bewußtsein von diesem bilden. Das aber gelingt ihm vor allem dadurch, wenn er zu Fuß das Territorium eines Volkes durchmißt, sich diesen Raum sinnlich aneignet. Der Kaiserzug von Pfalz zu Pfalz, er wurde zum patriotisch gestimmten Wanderer, der diese Fahrt künstlerisch ins Zentrum rückt.

Eine symbolhafte Aufladung, wie sie im Zentralwerk der Ausstellung beispielgebend zu spüren ist. Gleich daneben zu sehen ist eine sich hierauf beziehende Interpretation von Friedrichs Freund Carl Gustav Carus: „Wanderer auf Bergeshöh“. Ergänzt wird die Symbolhaftigkeit der Natur durch einen gemeinsamen Wissensschatz, wenn beispielsweise Sagen- und Märchengestalten die Bilder eines Moritz Schwind bevölkern. Der Reisende in altdeutscher Tracht, sich ausruhend, die Bäuerin, die ihm eine Erfrischung reicht, das gotische Gotteshaus im Hintergrund – sie alle werden zu Repräsentanten erhoben, an deren Anblick das Nationalgefühl des Betrachters kultiviert werden soll.

So präsentiert sich die deutsche Romantik überdeutlich in ihrem Bezug auf das Volkstümliche, in dem Maler, Betrachter, Kultur, sogar die Natur, in einen Beziehungsrahmen gebracht werden. Ein Nachempfinden, das sich in die Gegenwart nur als Anti-Deutschtümelei gerettet hat und von dem der aufrechte Zeigefinger Zeugnis ablegte. Ein vergessenes Nationalgefühl, das in gewissem Sinne eine Steigerung und Umwandlung in den gezeigten Bildern aus der Wandervogelzeit erfuhr.

Hier inszeniert sich gleich der einzelne Künstler als erkennendes Moment, ganz ohne schmückendes Beiwerk, ohne Burgen, Schlösser, Bäuerinnen oder Märchengestalten, nur er in seinem Dasein als Repräsentant seiner Kultur. Bestechend hier das Selbstbildnis Otto Dix’. Nicht nur der Pinselstrich verweist auf die deutschen Meister. Der vor Selbstbewußtsein strotzende Blick des 21jährigen in der Tracht der Wandervogelbewegung erinnert an Albrecht Dürers Selbstinszenierung und zeigt: Hier ist sich jemand seines Standpunktes sicher. Denn er hat ihn sich durch Raum und Zeit bereits angeeignet.

Die Ausstellung „Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir“ ist bis zum 16. September in der Alten Nationalgalerie in Berlin, Bodestraße, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 030 / 266 42 42 42

Der Katalog (Hirmer Verlag) mit 280 Seiten und 190 farbigen Abbildungen kostet im Museum 29 Euro.

 http://wanderlustinberlin.de