© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

1968, der „Geist des Konzils“ und die Verheißung der sexuellen Revolution
Fleisch und Welt im Triumph
Ingo Langner

Wer über die Achtundsechziger spricht, darf vom Zweiten Vatikanischen Konzil nicht schweigen. Das mag all jene verwundern, die es gewohnt sind, Kirchen- und Weltgeschichte fein säuberlich voneinander zu scheiden. Wer das tut und davon ausgeht, mit Beginn der Neuzeit habe die sogenannte Aufklärung dafür gesorgt, die Religion in die ihr gebührenden Schranken zu verweisen, der irrt fundamental. Dieser Irrtum ist deswegen so grundlegend, weil solches Denken von der Voraussetzung ausgeht, als gäbe es zwischen Himmel und Erde nur solche Dinge, die sich allein mit den schlichten Mitteln der Schulweisheit wiegen und messen lassen. Mit anderen Worten, wer so denkt, hält Positivismus, Szientismus und artverwandten Religionsersatz für die Schlüssel, die der Menschheit die verriegelten Pforten zum Paradies wieder öffnen werden.

Was den Marxismus angeht, dessen Messianismus bekanntlich exakt dieses Ziel verfolgt (und über dessen Namensgeber zu seinem 200. Geburtstag wieder einmal allerlei Wunderdinge zu lesen waren), nur soviel: Karl Marx’ Lehre hing am Darwinschen Evolutionismus, der Dampfmaschine und der Textilindustrie, also am Wissenschaftsglauben des 19. Jahrhunderts. Im 20. feiert die toll gewordene atheistische Aufklärung Triumphe in einem so schrecklichen Ausmaß, wie die in dieser Hinsicht alles andere als verwöhnte Welt noch nicht gekannt hat. Hitlerismus und Stalinismus, die deutschen Vernichtungslager und die sowjetischen Gulags, sind die Menetekel an den Zitadellen der Aufklärung. Wer mit ihr annimmt, man könne das Böse mit Erziehung und Kultur aus der Welt schaffen, ist bestenfalls naiv. Um das Böse zu verhindern, bedarf es einer übernatürlichen Antwort.

All das ist den Bischöfen und Kardinälen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) wohlbekannt. Ebenso vertraut sind sie auch mit dem, was sich am Ende des christlichen Mittelalters an Christi Stelle selbst zum Licht erklärt und sich in hybridem Übermut anmaßt, es hätte die Menschheit aus selbstverschuldeter Unmündigkeit erlöst.

Die Konzilsväter wissen auch: Solcher Wahnwitz wird von einer Ideologie befördert, nach der die menschliche Vernunft Maßstab aller Dinge ist. Eben jene Vernunft konnte in der Französischen Revolution 1789 erstmals die politische Macht in einem europäischen Land ergreifen. Ihnen ist ebenfalls wohlbekannt, daß mit dem Mord am gesalbten König Ludwig XVI. das Christentum selbst geköpft werden sollte. Zeitgleich ersetzen die Revolutionäre das christliche Credo durch die Deklaration der Menschenrechte. Danach ist der Mensch nicht mehr Geschöpf Gottes, sondern „frei“.

Doch frei wovon und wozu? „Weil der Mensch sich nicht selber erschaffen hat, (kann er) sich auch nicht selber als frei erklären“, brachte Kurienkardinal Walter Brandmüller den Casus knapp auf den Punkt. Und fügte hinzu: „Der Mensch ist frei kraft seines Geschaffenseins. Wir sind frei, weil uns Gott nach seinem Ebenbild geschaffen und die Freiheit geschenkt hat. Mehr Freiheit gibt es nicht. Das läßt sich nicht überbieten. Das ist die wahre Magna Charta der Menschenrechte.“

Dessen ungeachtet geht nicht nur eine Konzilsminderheit, sondern sogar Johannes XXIII. davon aus, am Beginn der sechziger Jahre sei für die Kirche die Zeit reif, auf die moderne Welt zuzugehen, den historischen Bruch zu kitten und final mit ihr Frieden zu schließen. Schon 1957 hat der spätere Papst noch als Kardinal Roncalli gesagt: „Hört ihr oft das Wort ‘aggiornamento’? Seht da unsere heilige Kirche, immer jugendlich und bereit, dem verschiedenen Verlauf der Lebensumstände zu folgen mit dem Zweck, anzupassen, zu korrigieren, zu verbessern.“ 

Obwohl er fünf Jahre später auf dem Stuhl Petri vor einer Mißdeutung des Aggiornamento warnt, wenn es „nur das Leben versüßen oder der Natur schmeicheln will“, ist das Wort vom Aggiornamento, gemeinsam mit dem Bild von den Fenstern der Kirche, die man für die Welt öffnen müsse, zum Leitmotiv dieses Konzils geworden. Auf dem es offensichtlich um die allseitige Versöhnung geht: um die mit den Protestanten und sogar mit den Kommunisten. Nachvollziehbar ist die mit der Reformation. Die mit einem der brutalsten und bösartigsten Feinde der Kirche ist allerdings völlig unverständlich.

Im Zuge des „Aufbruchs“ und des Traditionsabbruchs nach dem Konzil geschieht ironischerweise etwas,  womit die europäischen modernistischen Kleriker, die sich mit der Welt ins Bett legen wollen, überhaupt nicht 

gerechnet hatten.

Man erinnere sich: 1961, im Jahr vor dem Konzilsbeginn, ist die Berliner Mauer gebaut worden. Dort wird auf Flüchtlinge scharf geschossen. 1962, kurz nach dem Ende der Kubakrise, steht der Sowjetkommunismus, trotz dieser Niederlage, noch voll im Saft. Gemeinsam mit der Volksrepublik China ist er immer noch der mächtigste weltliche Feind des Christentums. Die rote Heilslehre ist 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU von Nikita Chruschtschow nicht beerdigt worden. Im Gegenteil. Die Kritik am sogenannten Personenkult Stalins soll den weltweiten Sieg des Kommunismus befördern. Für Pius XII., der am 9. Oktober 1958 starb, ist das alles noch sonnenklar. Dieser Papst hat selbst noch vehement gegen den Kommunismus gekämpft. Wie alle Päpste nach der Veröffentlichung des „Manifests der Kommunistischen Partei“ im Jahr 1848.

Also erwartet der ganz normale Katholik auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil eine deutliche Verurteilung dieser menschenverachtenden Ideologie. Damit hat vermutlich sogar Chruschtschow gerechnet. Doch nichts dergleichen ist auf diesem Konzil des Aufbruchs passiert. Der Kommunismus ist dort nie verurteilt worden. Was statt dessen ins Spiel kommt, und gleich nach dem Konzil ins Kraut schießt, ist das sozialistische Ideal in der Kirche. In Lateinamerika vor allem. Bei den dortigen Jesuiten. Die plötzlich anfangen, vom Paradies auf Erden zu träumen.

Ironischerweise geschieht in diesem Kontext nun etwas, was die europäischen Modernisten, die sich mit der modernen Welt ins Bett legen wollen, überhaupt nicht erwartet hatten. In Europa möchten Bischöfe progressiv sein und machen für „die Welt“ ihre Fenster sperrangelweit auf. In Lateinamerika dagegen entdecken die Jesuiten den Klassenkampf. Diese Jesuiten sagen nun den Modernisten in Europa: Ihr seid reaktionär, wenn ihr meint, mit der Welt harmonieren zu müssen. Statt dessen müssen wir die kapitalistische Welt bekämpfen! Das muß für Hans Küng und Co. ein ziemlicher Schock gewesen sein. Eben noch an der Spitze des Fortschritts, eben noch katholische Avantgarde und über Nacht wieder ganz hinten gelandet. Schließlich wird Paul VI., der fortschrittliche Fensteröffner, am Ende seines Pontifikats zur tragischen Figur.

Seit dem Ende des Zweiten Vatikanums geht die Parole vom „wahren Geist des Konzils“ um die Welt. Womit alles gemeint ist, was sich für „den Fortschritt“ und gegen „die Tradition“ ausspricht. Innerhalb der katholischen Kirche beginnt über Nacht eine neue Zeitrechnung. Man schreibt die Kirchengeschichte nicht mehr gemäß der von Christus selbst gestifteten Lehre fort, sondern setzt eine Stunde Null, um neu zu beginnen. Die sichtbarsten Zeichen dafür sind: Romanische, gotische und barocke Hochaltäre werden hinausgeschafft, zersägt, manche sogar auf den Müll geworfen und durch schlichteste Volksaltäre ersetzt. Hinter denen sich der Priester zur Gemeinde wendet und jetzt die heilige Messe in der jeweiligen Volkssprache liest und nicht mehr auf Latein. Wer das nicht mitmacht, ist vorkonziliar, also reaktionär.

Was könnte die Ursache für den Exodus an Priestern nach dem Zweiten Vatikanum sein? Scheint doch jetzt fast alles, was sich die Fortschrittler gewünscht haben, erfüllt zu sein. Was noch fehlt, ist die Aufhebung des Eheverbots für die Geistlichen.

Die Folgen dieser innerkirchlichen Revolution sind allerdings ganz andere, als die von ihren Protagonisten erwarteten. Worüber die nackten Zahlen beredt Auskunft geben: 1962 werden in Deutschland 557 Neupriester geweiht. 1970 sind es nur noch 303, 1980 noch 211, im Jahr 2000 noch 154, und 2016 ist ihre Zahl auf 77 gesunken. Diese Statistik besagt, daß bereits unmittelbar nach dem Konzil von einem Aufschwung nicht die Rede sein kann. Das Gegenteil ist der Fall. Was noch weit schwerer wiegt: Nach dem Zweiten Vatikanum verlassen bis 1990 weltweit insgesamt rund 125.000 katholische Welt- und Ordenspriester ihre Kirche. 

Was könnte die Ursache für diesen historischen Exodus sein? Scheint doch jetzt fast alles, was sich die klerikalen modernistischen Fortschrittler gewünscht haben, erfüllt worden zu sein. Doch dieses „fast“ hat es in sich. Was noch fehlt, ist die Aufhebung des Eheverbots für die Priester, also das Ende des Zölibats.

Kann es also sein, daß die nachkonziliare Aufbruchsstimmung nicht so sehr an der Liturgiereform hing? Spricht nicht sehr viel dafür, daß jeder der Hunderttausend vor allem gehofft haben wird, heiraten zu dürfen, und daß die Enttäuschung dann riesengroß war, als der Zölibat nicht fällt? War es mithin „das Fleisch“, das hier die letztgültige Entscheidung trifft, die priesterliche Berufung aufzugeben und alles hinzuwerfen? So wird es wohl gewesen sein.

Wenn wir auf die dem Zweiten Vatikanum vorangegangenen Konzile der ersten Jahrhunderte schauen, werden wir feststellen, daß es gerade dort sehr bedeutsame Streitfragen gab. Da ging es darum, ob Jesus nur wahrer Gott oder nur wahrer Mensch oder beides zugleich ist? Da ging es um das Wesen der Trinität, also das Verhältnis von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist. Da wollte man wissen, ob Maria die Gottesgebärerin ist oder sie es nicht ist? Kurzum: Es ging um fundamentale christliche Glaubensfragen. Aber auf dem Zweiten Vatikanum geht es am Ende des Tages für 100.000 Priester schlicht nur noch darum: Kann ich endlich heiraten oder kann ich es nicht?

Sexualität! Das ist das Zauberwort. Auch für die Achtundsechziger. Bei ihren Revolutionsträumen spielt die „sexuelle Befreiung“ eine zentrale Rolle. Wer keinen Mythen nachläuft, weiß, daß anno ’68 das Sexuelle weit wichtiger war als der nachgeholte Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der wurde erst postum beim erfolgreichen Marsch durch die Institutionen aus Rechtfertigungsgründen ins Spiel gebracht. Gegenwärtig scheint sich so gut wie alles um die Sexualität zu drehen. Menschen teilen sich sogar freiwillig und öffentlich nach ihren sexuellen Präferenzen ein. Die sexuelle Präferenz ist zum Distinktionsmerkmal schlechthin geworden.

Aus all dem folgt: Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche ein diesseitiges Heilsversprechen in die Welt getragen, das ihrem eigentlichen Auftrag völlig entgegengesetzt ist, ihm sogar zutiefst widerspricht. Fast zweitausend Jahre galt uneingeschränkt das im Evangelium nach Johannes überlieferte Christuswort: „Wenn die Welt euch haßt, dann wißt, daß sie mich schon vor euch gehaßt hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum haßt euch die Welt.“

Doch Mitte der sechziger Jahre möchten die Konzilsväter von der Welt urplötzlich geliebt werden. Der Impuls für all das, was sich mit dem Kairosjahr 1968 an politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Übeln verbindet, geht von diesem Konzil aus. Die westliche Welt hat es erst dankend aufgenommen und hat dann, vor allem in Europa, dem Herzland des Christentums, der katholischen Kirche den Rücken gekehrt.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen: Auf den Exodus der Priester folgt der Exodus der Gläubigen aus der katholischen Kirche. Das von deutschen, französischen, belgischen und niederländischen Bischöfen beförderte Experiment „Aggiornamento“ ist offensichtlich gescheitert. Wie die Ideologie, mit der die Achtundsechziger die Welt erlösen wollten.







Ingo Langner, Jahrgang 1951, ist Filmemacher, Autor und Publizist. Er schreibt als Gastautor unter anderem für Die Tagespost und Cicero. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Hybris der säkularen Aufklärung („Die Schönheit und das Biest“,   JF 14/18).

Foto: Sex war das Zauberwort: Impression vom 82. Deutschen Katholikentag 1968 in Essen, Schilder „Aktionszentrum kritischer Katholikentag“ und „(Bischof Franz) Hengsbach, wir kommen, wir sind die roten Frommen“