© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

„Ehe die allgemeine Barbarei hereinbricht“
Verfall und Renaissance: Vor 200 Jahren wurde der Kunsthistoriker und Kulturpessimist Jacob Burckhardt geboren
Eberhard Straub

Die Europäer wußten immer, daß nichts in der Geschichte Bestand hat. Der Untergang Trojas stand ihnen stets vor Augen, später kam der Karthagos, des klassischen Griechenlands und Roms hinzu. Und seit der Französischen Revolution verbreiteten sich Stimmungen, die mit dem Untergang des Abendlandes rechneten. 

Jacob Burckhardt, der große Historiker, am 25. Mai 1818 in Basel geboren, war sich schon als Student sicher, in einer Zeit zu leben, die Katastrophen und nicht einer schöneren Zukunft entgegentrieb. „Ändern kann ich’s doch nicht, und, ehe die allgemeine Barbarei (denn anderes sehe ich zunächst nicht vor) hereinbricht, will ich noch ein rechtes Auge voll aristokratischer Bildungsschwelgerei zu mir nehmen“, das schrieb er 1846 einem liberalen, also weltfrohen Freunde. „Untergehen können wir alle; ich aber will mir wenigstens das Interesse aussuchen, für welches ich untergehen soll, nämlich die Bildung Alteuropas.“ 

Deswegen lag es für ihn nahe, gerade den Zeiten des Verfalls und Untergangs seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die italienische Renaissance, die er in ihrer Totalität als eine Staat und Religion sowie Kunst und Wissenschaft umfassende Kultur in seinem signifikantesten Buch 1860 vergegenwärtigte, setzte ja als Wiedergeburt Zeiten des Verfalls und des Jammers voraus, das Absterben erschöpfter Lebensformen.   

Weil er seine eigene Zeit als eine Epoche sich verschärfender Krisen empfand, beharrte er gegenüber den fortschrittstrunkenen Liberalen darauf, daß auch die „Zeiten des Verfalls und Untergangs ihr heiliges Recht auf unser Mitgefühl haben“. Er hatte schon als Student 1841 den Mut, konservativ zu sein, als gerade erst konservative Ideologien entwickelt wurden und sich in ihrem Namen Gruppen bildeten mit politischen Absichten. Liberal zu sein, das erschien ihm damals wie später die leichteste Sache von der Welt zu sein. Dazu gehörte nur der Wille, es sich in der Gegenwart bequem zu machen, verlockt vom „Narrenspiel der Hoffnung“ und der von ihm geweckten Wünschbarkeiten, um „die Zukunft zu gestalten“. Sein Konservativismus war illusionslos, also hoffnungslos.

Burckhardts Sympathie galt den letzten Senatoren Roms

Er wußte nicht, was im Prozeß der allgemeinen Auflösung bewahrt und über den Ruin hinweg gerettet werden könne. Die Bildung des alten Europa galt ihm ja nur als Mittel, standzuhalten in den Unwettern und Widrigkeiten. Sein liebstes Buch war das von Eugippus um 511 nach Christus geschriebene Leben des Heiligen Severin. Dieser fromme und feinsinnige Provinzialrömer kümmerte sich im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts mit seinen Mitbrüdern in einem geistlichen Konvent vom heutigen Passau und Österreich aus um die Sicherheit und den allmählichen Rückzug der Lateiner aus ihrer Heimat Noricum, dauernd belästigt von unwillkommenen Germanen. Letzte Römer und Christen überführten seinen Sarg nach Neapel, damit er wenigstens dort bestattet sei, wo sie hoffen durften, noch Überbleibsel von guter Erziehung, literarischer Bildung und Urbanität finden zu können. 

Mit der „Zeit Konstantins des Großen“ entwarf er 1853 ein Gemälde, wie trotz aller organisatorischer Energien neuer, barbarischer Elemente die römische Welt unweigerlich zu einer Welt von gestern wurde, vergreisend, ermattet, unfruchtbar, so roh und plump werdend, wie es die verschiedenen Einwanderer, angeworben oder eingedrungen, ohnehin waren. Es gab eine Angleichung auf niedrigstem Niveau. Jacob Burckhardts Sympathie galt den Geistesverwandten, allerletzten römischen Senatoren, wie Eugenius und Symmachus. Sie kommentieren im Reich am Ende allmählichen Verfalls noch einmal Vergil und schrieben festliche Verse, ungeachtet ihrer Trauer, daß alles längst schon einmal gesagt wurde. Die Lebensfreude wich einem subtilen Lebensüberdruß. Das ewige Rom hatte sich als sehr vergänglich erwiesen. 

Nicht anders das klassische „Griechenland und seine attische Demokratie“. In seiner „Griechischen Kulturgeschichte“ erinnert Burckhardt an die herrlichen Zeiten, in denen einmal Ideal und Leben miteinander verschmolzen. Ein kurzer Moment, dem langer Verfall folgte, das Elend einer Volksherrschaft, die Denunziation, Gesinnungsschnüffelei und Verleumdung zu bürgerlichen Tugenden erhob. Voller Abscheu schilderte der Bildungsaristokrat den Aufstand der Massen und den Terror im Namen der Demokratie, den er für das 20. Jahrhundert erwartete. 

Erst die makedonischen Könige, dann die römischen Besatzer sorgten im griechischen, gewaltsamen Durcheinander für Stabilität und Ordnung, in einem Griechenland ohne Lebenskraft, fast entvölkert, arm an Gedanken und Poesie. Es war herabgekommen zu einem Schattenreich voller Ruinen, romantisiert von Fremdenführern oder römischen Kulturtouristen, die auf den Spuren griechischer Klassik sich klassische Bildung ersannen. 

Sie wurde über Verwandlungen und Katastrophen hinweg zur klassischen Bildung der Europäer, deren letzte Vertreter die deutschen Klassizisten in Weimar, Berlin, Heidelberg und Wien waren, unter denen Jacob Burckhardt seinen ehrenvollen Platz einnahm. Friedrich Nietzsche warb freilich vergeblich um die Gunst, gar Freundschaft dieses wahrhaft lebendigen Geistes, der sich das Erbe des klassischen Athen, des augusteischen Zeitalters und der italienischen Renaissance angeeignet hatte. 

Je mehr die Ökonomisierung aller Lebensmächte zum obersten Gebot im späten 19. Jahrhundert wurde, desto gründlicher nahmen sich von der Allgegenwart kleinbürgerlicher, ehrgeiziger „Philister“ enttäuschte Bildungsbürger griechische Schöngeister, ohne jede Beziehung zur Polis und Demokratie, stoische Römer mit ihrer Seelenruhe im kaiserlichen Absolutismus und anmutige Weltleute der italienischen Renaissance zum Vorbild. 

Jacob Burckhardt wirkte unter allen deutschen Historikern, obschon er Rufe nach Karlsruhe, Göttingen oder Berlin abgelehnt hatte, am mächtigsten auf das geistige Leben der Gebildeten. Seine Wirkung war so groß, weil er modische Tendenzgeschichte und Geschichtspolitik entschieden ablehnte und vor den geistigen Verwüstungen durch Sinnstifter und Orientierungshelfer mit ihren akustischen Tonverstärkern in den Medien warnte. 

Geschichtsbetrachtung als Anleitung zum Lebensgenuß

Er hatte kein System und wollte nichts beweisen. Er hielt sich als Geschichtserzähler an die Devise Goethes, auf das „Stirb und Werde“ der Lebenskräfte zu achten und in allen Untergängen mit ihren schrecklichen Verlusten Übergängen zu erahnen, die ein neues Leben aus Ruinen erwarten lassen, eben eine Renaissance und Wiedergeburt verdrängter geistiger Potenzen, die dem Leben wieder Glanz und Schönheit verliehen und wahren Lebensgenuß ermöglichten. 

Die europäische Geschichte ist für Burckhardt eine Geschichte der Renaissancen, der Bemühung, sich mit Rückgriffen auf das „Mysterium des Schönen“ aus dem Elend häßlich gewordener Lebenszustände wieder zu erheben und sich wahrhaft zu befreien, weil über die Schönheit der Weg zur Freiheit führt. In Athen brach für einen unvergeßlichen Augenblick dies Mysterium des Schönen in die Welt als Geschichte. Die europäische Geschichte empfing für Jacob Burckhardt ihre Kontinuität aus den Versuchen, am „klassischen Wunder“ in neuen Welten anzuknüpfen, ob im Rom des Augustus, in den Residenzen Italiens oder zuletzt im Weimar Goethes und in Schinkels Berlin. In der Fähigkeit zur Wiedergeburt lag ein großer Trost.  Doch mit dieser besonderen Fähigkeit und rettenden Kraft rechnete Burckhardt für die europäische Zukunft nicht mehr. 

Die französischen Revolutionäre und deren geistige Erben überschätzten zu seinem Unmut in „kecker Antizipation eines Weltenplanes“ ihre Zeit als Übergang zur besten aller Welten, in der die Geschichte an ihr Ziel gelange. Sie empörten sich gegen die historische Weltvernunft und die klassische Besonnenheit, dem Menschen zu mißtrauen und seinen wirren Bestrebungen, seine Gegenwart zu überheiligen und zu verewigen. Unter solchen Bedingungen ließ sich auf keine weitere Renaissance hoffen. 

Als Rettung aus allen Widrigkeiten bot Jacob Burckhardt seinen Lesern an, seinem Beispiel zu folgen, den Lebensgenuß nicht in politischem und sozialen Allotria zu suchen, sondern in klassischen Idealen und deren wechselnden Erscheinungsformen. Die Privatheit des gebildeten Schöngeistes in der Nachfolge eines politikverdrossenen griechischen Philosophen, römischen Stoikers oder eleganten, in sich ruhenden Aristokraten aus Mantua oder Ferrara blieb als einziger Ausweg in der Prosa der komfortablen, aber geistlosen Moderne. 

Jacob Burckhardt wurde zum Ratgeber und Anreger der Ästheten, die mit stillem Ernst sich der aufdringlichen Gegenwart entziehen, um im Ewigen daheim zu sein. Denn uns zu verewigen sind wir ja da, wie Gothe allen Bekümmerten empfahl. Jacob Burckhardt folgte dieser Devise, indem er Geschichtsbetrachtung als Anleitung zum Lebensgenuß betrieb und in seiner Nachfolge letzte Bildungsbürger aufforderte, Poesie im höchsten Maßstab in der Geschichte zu suchen.