© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Der Kaiser stand nicht abseits
In Potsdam heiß umstritten und diskutiert: Das deutsche Militär und das Ende des Ersten Weltkriegs
Jürgen W. Schmidt

Zum Thema „Das deutsche Militär und das Ende des Ersten Weltkriegs“ fand am 15. Mai am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ehemals MGFA) eine Tagung statt. An der Tagung nahmen überwiegend deutsche und ausländische Militärhistoriker teil, aber auch die Studenten des Bachelorstudiengangs „Militärgeschichte“ der Universität Potsdam. 

Nach Eröffnung durch den Tagungsorganisator Markus Pöhlmann referierte Holger Afflerbach (Leeds) über „Deutschlands Weg aus dem Totalen Krieg“. Die Suche nach einem solchen Weg begann nicht erst im Jahr 1918. Doch weil zum Weg aus dem Krieg immer zwei gehören und Deutschlands einschlägige Friedensvorschläge seit 1916 kaum auf Gegenliebe stießen, kam es schließlich 1918 so, wie es gekommen ist. In der Diskussion bezeichnete Afflerbach die Ludendorff-Biographie von Manfred Nebelin als gutes Buch, jedoch dessen Thesen über eine angebliche „Diktatur Ludendorffs“ als völlig daneben. 

Kaiser Wilhelm studierte stundenlang die Lagekarten

Die Historikerin Wencke Meteling (Tübingen/Washington) berichtete über die Stimmung im deutschen Offizierskorps. Die Wilhelm Deistschen Thesen über einen „verdeckten“ Militärstreik im deutschen Heer 1918 fand sie zwar theoretisch richtig, aber in den Zahlen völlig übertrieben. Großes Interesse, was sich in der lebhaften Diskussion zeigte, fand das Referat des Militärhistorikers Oberst Gerhard P. Groß (Potsdam). Ihm war es gelungen, die militärisch ungemein detaillierten Briefe des Hauptmanns i. G. Friedrich Mewes an seine Ehefrau aufzutreiben, welcher den ganzen Krieg im Großen Hauptquartier diente, zuerst bis 1916 als Mitarbeiter der Operationsabteilung, später Flügeladjutant des Kaisers. Die Briefe geben klaren Einblick in die Tätigkeit der sieben bis acht Generalstabsoffiziere, welchen die strategische Leitung des Krieges an der Westfront oblag, und deren gemeinsamen Haß gegen ihren Chef Oberst Gerhard Tappen, wie auch ab 1916 in das Alltagsleben des deutschen Kaisers. 

Überraschung riefen die von Oberst Groß in den Briefen gefundenen Mitteilungen hervor, daß der Kaiser jeden Abend mit seinem Flügeladjutanten Mewes stundenlang die Lage auf Karten studierte. Dies widersprach den bisherigen Vorstellungen von einem unbedarften Kaiser, dem das tägliche Kriegsgeschehen relativ egal war. Zudem scheint Mewes das von Groß so bezeichnete „missing link“ der OHL direkt ins Ohr des Kaisers gewesen zu sein, denn der vielbeschäftigte Ludendorff fand stets Zeit, den kleinen Hauptmann Mewes ausführlich über die Lage zu instruieren, und Hindenburg ehrte Hauptmann Mewes häufig durch den Platz an seiner rechten Seite bei den Mahlzeiten. Mewes und dessen Briefe, deren Herausgabe vorbereitet wird, scheinen eine neue Quelle zur Deutung der Vorgänge in der OHL von 1914 bis 1918 zu werden. 

Vorträge wie der von Christoph Nübel (Potsdam) über „Geländebesitz als militärisches wie politisches Kapital zu Kriegende 1918“ oder über den „Wiederaufbau der bewaffneten Macht in Deutschland 1918–1921“ von Peter Keller (Bundesarchiv Koblenz) stießen dagegen nur auf höfliches Interesse der anwesenden Militärhistoriker, ohne Gegenstand ausschweifender Diskussionen zu werden. Derartige Diskussionen riefen dagegen die Referate des Wilhelmshavener Museumsdirektors Stephan Huck und des Fregattenkapitän Christian Jentzsch über die Vorgänge von 1918 in der Marine hervor. Jentzsch zeigte auf, daß die Marineoffiziere bereits während des Kriegsjahres 1918 den Krieg verloren gaben und folglich zu Kriegsende als „guten Abgang“ eine große Seeschlacht gegen England anstrebten, welche die britische Seemacht zudem in Hinblick auf einen künftigen neuen Krieg nachhaltig schwächen sollte. Angesichts der im November 1918 überall in Deutschland auftauchenden Matrosen, welche die Revolution kräftig anschoben, mußten beide Marinehistoriker bekennen, daß die Herkunft jener anscheinend allgegenwärtigen Matrosen weiterer Forschung bedürfe. 

Das abschließende Referat des Tübinger Historikers Sven Oliver Müller über „Gewaltgemeinschaften? Ausschreitungen von Zivilisten, Polizisten und Soldaten an der Heimatfront im deutschen Reich“ bewirkte eine wahrhaft stürmische Diskussion. Das lag auch daran, daß Müller Ausnahmesituationen, wie jene zu Kriegsanfang 1914 in Deutschland überall spontan einsetzende Jagd auf „französische Goldautos“, einer verdeckten Anregung der (damals gar nicht existenten) „Presseabteilung des Generalstabs“ zuschrieb. 

Gewalt sei ausschließlich vom Militär ausgegangen

Beim Müllerschen Referat zeigte sich deutlich ein genderbewegter Zeitgeist (Frauen meist nur Opfer, fast nie Akteure von Gewalt) und ebenso die Vorstellung, daß Gewalt fast stets nur von Militär gegen Zivilisten wirksam wird. Der umgekehrte Fall (wie zum Beispiel im Franktireurkrieg in Belgien) lag nicht in seinem Fokus. Müller mußte sich von mehreren Diskutanten deutlich sagen lassen, daß psychologische Ausnahmesituationen eben auch Ausnahmestimmungen bei breiten Teilen der Gesellschaft hervorrufen. Einen Hinweis auf analoge Vorkommnisse bei der unblutigen Revolution von 1989/90 in der DDR nahm der Referent dankbar auf. Insgesamt war die Potsdamer Tagung des Zentrums für Militärgeschichte der Bundeswehr von konstruktivem Meinungsaustausch unter Historikern gekennzeichnet.