© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Ein literarischer Anstoß für den Prager Frühling
Literatur im Sozialismus mit menschlichem Antlitz: Die Kafka-Tagung im Mai 1963 auf dem tschechischen Schloß Liblice und ihre politischen Folgen
Jörg Bernhard Bilke

Aus Sicht der im Ostblock bis 1989/90 herrschenden Kommunisten gab es unabweisbare Gründe, die Werke des Prager Schriftstellers Franz Kafka nicht zu veröffentlichen. Seine düsteren Romane und Erzählungen machten die Leser hellhörig und feinfühlig für die politischen Verfolgungen, deren sie während der Stalin-Zeit ausgesetzt waren und ausgesetzt blieben über den Tod des Moskauer Diktators 1953 hinaus. Wer den ersten Satz seines Romans „Der Prozeß“ von 1925 las, erschauerte und fühlte sich an Selbsterlebtes erinnert: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

Niemand konnte im Frühjahr 1963 ahnen, welche Wirkung von der zweitägigen Kafka-Konferenz am 27. und 28 Mai ausgehen sollte, zu der der Prager Germanist Eduard Goldstücker (1913–2000) in das Barockschloß Liblice eingeladen hatte. Es ging darum, so stand es im Einladungstext, die „Bedeutung des Werkes Franz Kafkas unter den marxistischen Wissenschaftlern zu klären“. Ein durchaus legitimes Unterfangen, zumal sich der Tagungsleiter ideologisch dadurch abzusichern suchte, daß er sich auf die Enthüllungen des XX. Parteitags der Sowjetkommunisten vom Februar 1956 berief und Franz Kafka, der seine Werke in deutscher Sprache geschrieben hatte, zum „Opfer des Personenkults“ im Stalinismus erklärte.

Eingeladen waren auch fünf DDR-Germanisten, die offensichtlich die Aufgabe hatten, Franz Kafkas Texte zu historisieren. Zwei von ihnen hatten ihre Dissertationen, Klaus Hermsdorf 1959 in Ost-Berlin und Helmut Richter 1961 in Leipzig, über das Erzählwerk des Prager Autors geschrieben, was insofern mit einem „kafkaesken“ Beigeschmack versehen war, weil die Originaltexte Franz Kafkas bis dahin in keinem DDR-Verlag erschienen waren. Als sechster DDR-Teilnehmer war die Schriftstellerin Anna Seghers aus Ost-Berlin angereist, deren Exilroman „Transit“ (1943) über die Flucht deutscher Emigranten aus dem besetzten Paris 1940/41 nach Marseille deutlich erkennen ließ, daß sie mit den Werken des Prager Autors vertraut war. Enttäuscht verließ sie die Tagung vorzeitig und schrieb schon am 29. Mai an Georg Lukacs in Budapest: „Diese Leute sind gegen Kafka, also bin ich für ihn.“

Sukzessive Änderung des  politischen Klimas bewirkt

Der neuralgische Punkt dieser Konferenz war erreicht, als der Wiener Marxist Ernst Fischer (1899–1972) die Frage aufwarf, ob der von Karl Marx geprägte Begriff der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, deren literarischer Ausdruck Franz Kafkas Romane wären, nicht auch auf die sozialistische Gesellschaftsordnung angewandt werden müßte. Hier freilich war eine Grenze überschritten, die diese Literaturtagung zum Politikum machte. Besonders deutlich konnte man das an der Reaktion der Ost-Berliner SED-Dogmatiker erkennen. Wurde auf Schloß Liblice mit leiser Hoffnung geäußert, Franz Kafka wäre, wenn seine Werke denn endlich veröffentlicht würden, eine Schwalbe, die den Frühling, die Auflösung also der ideologischen Erstarrung, ankündigte, so erklärte Alfred Kurella (1895–1975), Mitglied der „Ideologischen Kommission beim ZK der SED“, den ungeliebten Autor zur Fledermaus, zum Vorboten der einbrechenden Nacht.

Daß die Kafka-Konferenz 1963 ein Präludium des „Prager Frühlings“ von 1968 war, wird aus dem zeitlichen Abstand von 55 Jahren immer klarer. Nach Liblice wurden nicht nur Franz Kafkas Werke ins Tschechische und Slowakische übersetzt, auch Leben und Werk des Schriftstellers wurden in Presse und Hörfunk gewürdigt und Bühnenfassungen seiner Werke aufgeführt; selbst am Grab wurden ehrende Worte gesprochen. Schließlich flog 1964 sogar Max Brod, der Jugendfreund, von Israel nach Prag, um eine Kafka-Ausstellung zu eröffnen.

Es war das politische Klima, das sich seit 1963 sukzessiv veränderte, bis die Zeit schließlich reif war für den im Frühjahr 1968 einsetzenden Prager Reformkommunismus unter Alexander Dubcek. Dieser unerhörte Vorgang bis zum Einmarsch am 21. August läßt sich vielleicht mit einem Zitat aus Alexander Solschenizyns „Offenem Brief“ an die Sowjetführung umschreiben: „Ziehen Sie die Vorhänge zurück, draußen ist heller Tag!“






Dr. Jörg Bernhard Bilke war bis 2000 Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat.