© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Opposition wittert Morgenluft
Türkei: Die kemalistisch-nationalistische IYI-Partei mischt die eingefahrene Politlandschaft ordentlich auf
Marc Zoellner

Einen leichteren Einstieg in den Wahlkampfendspurt hätte sich Meral Aksener kaum wünschen können: Gleich Zehntausende begeisterte Anhänger waren vergangenen Sonntag auf den zentralen Platz der westtürkischen Metropole Aydin geströmt, um die Vorsitzende der IYI-Parti, der „guten Partei“, reden zu hören. Und Aksener hatte tatsächlich viel zu besprechen; angefangen bei der wirtschaftlichen Schieflage der Türkei, deren Hauswährung Lira sich seit Wochen auf Talfahrt befindet, über die weithin spürbaren sozialen Ungleichheiten im Land bis hin zu Erdogans Präsidialsystem, welches Aksener als autokratisch bezeichnete – und dessen Abschaffung sie im Fall ihres Wahlsiegs in gut drei Wochen schon im Vorfeld fest versprochen hat. 

Den laizistischen Idealen Atatürks verpflichtet

Denn am 24. Juni stimmen die Türken sowohl über ihr neues Parlament ab als auch über ihren Präsidenten. Getreu den Vorgaben des Präsidialreferendums vom April 2017 soll dieser im Anschluß nicht nur die Aufgaben des regierenden Staatsoberhauptes, sondern ebenso die Befugnisse des Premiers übernehmen, dessen Amt ab Juli gestrichen ist.

„Eine einzelne Person in der Verantwortung zu haben wird die Türkei auf mittlere und lange Zeit einen hohen Preis kosten“, warnte Aksener bereits Anfang Mai im Interview mit dem Guardian. „Die türkische Demokratie wurde gestört, und wir müssen sie nun wiederherstellen, ebenso wie die Herrschaft von Gesetz und Rechtsprechung.“ Mit ihrer Forderung nach einer Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie rannte Aksener vergangenen Sonntag zumindest in Aydin offene Türen ein: Immerhin gilt die türkische Westküste als Kernland der oppositionellen Kemalisten. Zur Präsidentschaftswahl 2014 errang CHP-Kandidat Ekmeleddin Ihsanoglu hier einen Achtungserfolg gegen den letztendlichen Wahlsieger Recep Erdogan   mit beinahe 60 Prozent der Stimmen; und auch zum Verfassungsreferendum von 2017 stimmten gut zwei Drittel der Wähler gegen Erdogans Gesetzesnovelle. Ein Umstand, der nicht zuletzt der politischen Fleißarbeit Meral Akseners zu verdanken war. Schon damals hatte die 61jährige Historikerin intensiv Wahlkampf gegen Erdogan betrieben, welcher schlußendlich zum formlosen Ausschluß Akseners aus ihrer politischen Heimat, der nationalistischen MHP, führte (JF 16/17).

Einen interessanten Wahlkampf versprechen demzufolge die kommenden drei Wochen. Mit der MHP personell, nicht jedoch ideologisch entzweit, rief Aksener erst im Oktober 2017 eine eigene politische Bewegung ins Leben – eben jene „Gute Partei“. Ein „gutes Land“, so hatte Aksener die Namensgebung ihrer Partei einst begründet, solle die Türkei schließlich werden. Außenpolitisch ambitioniert, proeuropäisch, mit einem beeindruckenden Wirtschaftswachstum, welches sich auch in der Lohnentwicklung widerspiegeln soll. Eine Nation, die sich weiter den laizistischen Idealen des Landesvaters Mustafa Kemal Atatürk verpflichtet fühlt – ebenso aber auch den konservativen Grundwerten des Islam. „Ich bin praktizierende Muslima und war auf Pilgerfahrt“, klärt Aksener den scheinbaren Widerspruch im Guardian auf. „Aber der Kopf, der uns regiert, muß sich auf das Gesetz stützen. Der Säkularismus unseres Staates ermöglicht es erst, unsere Gesetze nach dem Bedarf unserer Bürger zu ändern.“

Noch kurz vor dem Verfassungsreferendum hatten rund 60 Prozent der befragten MHP-Wähler ihrer Erdogan-treuen Parteiführung widersprochen und konstatiert, ein „Ja“ zum Referendum nicht mittragen zu wollen. Um ihre Stimmen wirbt Aksener nun mit erhöhtem Aufwand – und auch ersten beachtlichen Erfolgen: Allein seit Parteigründung liefen bereits fünf der 40 MHP-Abgeordneten des türkischen Parlaments zur IYI über. Überdies lieh die kemalistische CHP zeitweise weitere 15 Abgeordnete aus, um der IYI die formelle Teilnahme an den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu gewähren. Ermöglicht hatte diesen Schritt ironischerweise eine gesetzliche Neuerung der regierenden AKP, die damit eigentlich nur der mit Erdogan verbündeten MHP das kostspielige Sammeln von Unterstützungsunterschriften zu ersparen gedachte.

Dem Parlament droht die Entmachtung 

Für den türkischen Präsidenten wird das Rennen um den Machterhalt dadurch ungemein knapp: Neueste Umfragen sehen die IYI bereits bei gut 17 Prozent. Im Verbund mit der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP sowie der islamischen Saadet Partisi (SP), die gemeinsam als „Bündnis der Nation“ zur Parlamentswahl antreten, liegt die konservativ-bürgerliche Opposition mit 44 Prozent gar gleichauf mit der „Volksallianz“, dem Zusammenschluß von AKP und MHP. Einzig daß die Kemalisten und die IYI jeweils eigene Kandidaten für die Präsidentschaftswahl nominieren, dürfte Erdogan von Nutzen sein. In diesen Umfragen nämlich sprechen sich je nach Institut zwischen 44 und 52 Prozent für den Amtsinhaber aus. Was zu einem paradoxen Patt nach dem 24. Juni führen könnte, sollte Erdogan die Präsidentschaft gewinnen, seine AKP jedoch im Parlament unterliegen. „Wird die Anzahl unserer Sitze im Parlament weniger als jene der Opposition betragen, rufen wir neue Wahlen aus“, zitierte die Zeitung Cumhuriyet jüngst aus einem Strategiepapier der AKP. Ein Schreckensszenario für Aksener, die darauf baut, zumindest in einer möglichen Stichwahl die CHP zum Schulterschluß gegen Präsident Erdogan bewegen zu können. „Denn diese Wahl“, mahnte sie jüngst die Kemalisten, „wird eine der wichtigsten in der Geschichte unseres Landes sein.“