© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Pankraz,
das Esperanto und die Muttersprachen

Man scheint es nötig zu haben. Der Esperanto-Weltkongreß (Universala Kongreso, kurz UK), dessen alljährliches Treffen heuer vom 28. Juli bis 4. August in Lissabon stattfindet, hat schon  jetzt ein verlockendes Anreise-Abenteuer für potentielle Kongreßteilnehmer ausgeschrieben   und dafür viel Geld und eine stattliche Anzahl von Fahrrädern bereitgestellt. Am Dienstag, dem 12. Juni , soll es in Berlin losgehen. Man will zunächst in Tages-etappen von etwa 80 Kilometern strikt nach Westen radeln, dann – am Atlantik entlang – durch die Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal, um pünktlich in Lissabon anzukommen.

Das Unternehmen ist ganz auf jugendliche Interessenten abgestellt, die Freude am intensiven Strampeln haben, sich aber angeblich über die vielen Sprachen ärgern, die ihnen unterwegs begegnen, und deshalb eine Sehnsucht nach einer leicht erlernbaren, leicht einsetzbaren „Universalsprache“, eben nach dem Esperanto, entwickeln. Ob sich die Organisatoren der Esperanto-Radtour da nicht grundsätzlich täuschen? Pankraz würde das Urteil wagen: Es besteht heute, auch und vor allem bei der Jugend, nicht die geringste Sehnsucht nach dem Erlernen einer Extra-Universalsprache für den Alltagsverkehr, eher im Gegenteil.

Wolf Schneider hat sich schon 1994 in seinem populären Bestseller „Deutsch fürs Leben“ gründlich und überzeugend mit dem Problem „Esperanto oder nicht“ auseinandergesetzt. Wir hätten doch längst, schrieb er damals, eine solche Sprache, nämlich das Englische, genauer: das auf „Pidgin“ reduzierte und dadurch geradezu ingeniös vereinfachte Englisch. Im Vergleich zu diesem sei Esperanto äußerst kompliziert. Seine Deklinationen zum Beispiel seien schwer erlernbar, schließen sie doch die Adjektive ein, und vermischen so latino-romanischen Wortschatz auf irritierende Weise mit polnischen Beugeregeln.

 

Sprachen, die spontan gesprochen werden, lassen sich eben nicht an irgendwelchen Schreibtischen ausdenken, sie gehören vielmehr zu dem, was die aktuelle Diskussion zur Zeit unter dem Begriff der „Heimat“ hin und her wendet. Ja, es verhält sich sogar so, daß Sprache – wie den Diskursteilnehmern allmählich klar wird – am Ursprung nicht einfach eine simple Benennung ist, sondern ein Prozeß der Einwohnung im Sein.

Die Sprachforschung hat eindeutig an den Tag gebracht, daß nicht Benennungen von Dingen und Sachverhalten am Anfang standen, sondern Verständigungssignale zwischen einzelnen Familien- und Stammesangehörigen, Einwohnungsstrategien eben. An der Sprache der Heimat, des Dorfes oder der Kleinstadt, die sich noch nicht so gründlich wie die Technik- und Mediensprache im „Gestell“ der Entfremdung verfangen hat, können wir die Strategie der Einwohnung und des Nachhausekommens studieren und entfalten.

Allerdings, wer die Sprache der Heimat immer nur zur Erreichung von Zwecken benutzt, entfernt sich von ihr, verstellt sie. Um sie zu „stiften“ und zu „hüten“, müssen wir, wie Heidegger empfahl, die vehemente Vertrautheit, die wir mit unserer Muttersprache haben, relativieren, müssen die Sprache thematisieren, wie das die Dichter tun, unser je eigenes Verhältnis zu ihr selbst zur Sprache bringen. Dichter erfinden Personen und Situationen, Handlungsstränge und Aktabgänge, aber was ihre Sprache angeht, so erfinden sie nicht, sondern sie „finden“ sie, um noch einmal Heidegger zu zitieren.

In dem großartigen Essay „Vom Wesen der Sprache“ (veröffentlicht 1958) hat der Philosoph diesen Prozeß der Findung näher betrachtet. Das Finden an sich, notiert er, ist ein Geschenk, das dem Dichter gemacht wird wie vielen anderen, doch sein Rang beweist sich daran, wie er mit dem Fund umgeht. Er muß ihn „sparen“, darf ihn sich nicht aufs eigene Konto schreiben, ihn nicht bis zum Exzeß ausbeuten. Das sind wahrhaft gute Ratschläge, nicht zuletzt angesichts unseres gegenwärtigen literarischen Lebens.


Es lohnt sich offenbar, dem Sprichwort zuwider einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen, manchmal ist es die schlichte Notwendigkeit. Inwieweit lassen sich die tagtäglich anflutenden Neologismen, die man durchaus als geschenkte Gäule apostrophieren könnte, ohne Skrupel in die überkommene Sprache einordnen? Sind es gefährliche Sprachzerstörer – oder vielleicht doch Elemente, die die Muttersprache braucht, um überleben zu können? Das waren so die Probleme, die vor allem den großen Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) bis zu seinem Tode umtrieben.

Zum Schluß  hatte er sich die Frage gestellt, ob es eine Sprache geben könne, die prinzipiell nur von einem einzigen Menschen verstanden werde, eine „Privatsprache“. Und seine zögerlich seufzende Antwort lautete: nein. Denn Wörter, die ich nur für mich selbst schaffe, entbehren nicht nur jeglicher Kommunikationsfähigkeit, sondern sie lassen auch in meiner privaten Sphäre keine Luft für ein in sich sinnvolles Sprachspiel. Ich muß mich ja immer, wenn ich das Privatwort gebrauche, genau an die Situation erinnern, in der ich das Wort geschaffen habe, verfüge aber über kein Kriterium für diese situative Genauigkeit.

Und was für mich selbst und meine Privatsprache gilt, das gilt letztlich für die ganze Kommunikationsgemeinschaft. Auch sie verfügt über kein Genauigkeitskriterium der Erinnerung, muß sich im „Diskurs“ immer wieder über den jeweiligen Bedeutungsspielraum der Wörter und Sätze verständigen. Wir verstehen unsere Sprache, unsere sogenannte Muttersprache, nicht. Sie ist ein Proteus, und die Logiker (siehe die Erfinder von Esperanto), die sie kalkulisieren und voll verfügbar machen wollen, rennen ihr nur hinterher, ohne sie je zu  erreichen.

Andererseits fühlen wir uns nirgends so zu Hause wie in der  Muttersprache. Sie ist Heimat und Fremde zugleich, und aus dieser Verstrickung erlöst uns kein Esperanto-Weltkongreß. Trotzdem viel Spaß auf der Fahrradreise nach Lissabon und Freude an den vielen Muttersprachen, die man dabei zu hören bekommt!