© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Spiegelbild des Elends
Konsensverwalterin: Mit ihrem „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ bewegt sich die Schriftstellerin Thea Dorn penibel innerhalb des geltenden Meinungskorridors
Thorsten Hinz

Die zwei Sätze, mit denen die Schriftstellerin Thea Dorn (47) ihr jüngstes Buch eröffnet, bringen den delirösen Geisteszustand der Bundesrepublik auf den Punkt: „Dürfen wir unser Land lieben? Dürfen wir es gar ‘Heimat’ nennen?“ Die Fragen sind glücklicherweise rhetorisch gemeint und sollen die erwartbaren Einwände aus der anvisierten Leser-Zielgruppe vorwegnehmen.

Gleiches gilt für den Buchtitel „Deutsch, nicht dumpf“, der den zwanghaften Zusammenhang, der das nationale Selbstbild vieler Bundesdeutscher bestimmt, zitiert und zugleich auflösen soll. Den neurotisch Verspannten und Verstörten will Dorn einen „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ in die Hand geben und dem Land zu seiner Verbesserung ein wenig Eigenliebe beziehungsweise Patriotismus – speziell: Kulturpatriotismus – einhauchen. Keinen Zweifel läßt sie indes daran, daß sie im „Lager der Konsensverwalter“ steht und die Bundesrepublik für ein grundgesetzlich basiertes Erfolgsmodell hält, das gegen „Krawallmacher“ von rechts verteidigt werden müsse.

Für diese Doppelstrategie verknüpft sie zwei Erzähl- und Argumentationsstränge: einen kulturell-kulturgeschichtlichen und einen politisch-historischen. Wenn sie die Kulturnation als den größten deutschen Mythos und unverzichtbare Bezugsgröße beschreibt, schöpft sie aus dem reichen Wissensfundus, den sie bei der Arbeit an dem 2011 erschienenen Buch „Die deutsche Seele“ angesammelt hat. Gemeinsam mit ihrem Co-Autor, dem Schriftsteller Richard Wagner, hatte sie darin die deutschen Eigenarten von „Abendbrot“ bis „Zerrissenheit“ auf elegant-unterhaltsame Weise durchbuchstabiert (JF 22/12). Auch in ihrer aktuellen Streitschrift gelingen Dorn anspruchsvolle, inspirierende und vergnügliche Passagen.

Kultur definiert sie mit Wittgenstein als ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“. Die deutsche Kultur ist nichts Starres und von anderen Kulturen Abgegrenztes, doch etwas Bestimmtes: Der Kindergarten, die Jugendherberge, der Schrebergarten und die Freikörperkultur etwa sollten der Entfremdung des modernen Menschen von der Natur, die von den Deutschen besonders stark empfunden wurde, entgegenwirken. Um ein spezifisch Deutsches herauszufiltern, legt sie mehrere Merkmal-Raster übereinander. Zum Beispiel nähert sie sich ihm über die Liebe zum Fußball, zum Bier und zur Freikörperkultur. Doch erst wo die Dichte der Opernhäuser am größten ist, kann man sicher sein, sich tatsächlich in Deutschland zu befinden.

Die Klasse der „Globalhedonisten“ und „kosmopolitischen Nomaden“ dagegen, die ihren Lebensstil in einem internationalen Supermarkt zusammenstellen, vergleicht sie mit den Heuschrecken der Finanzindustrie. Für diesen Menschentypus sei nichts mehr einzigartig, weshalb ihm der Schmerz abgehe, der aus der Verlusterfahrung kommt. Man könnte auch von einer Exklusiv-Variante von Marcuses „Eindimensionalem Menschen“ sprechen.

Kultur und Zivilisation stellt sie sich als die Pole eines produktiven Spannungsverhältnisses zwischen Vergangenheit, Spiritualität und Herkunft einerseits und Zukunft, Rationalität und Politik andererseits vor. Statt von „Leitkultur“ möchte sie lieber von „Leitzivilität“ reden. Gemeint ist ein europäisch-aufklärerischer Verhaltenskanon, den sich auch Angehörige anderer Kulturen zu eigen machen können. Der Begriff ist zwar aseptisch, aber wenn er der Sache dient – bitte. Nur hat Thea Dorn zuwenig herausgearbeitet, daß diese Zivilität bestimmte kulturelle Voraussetzungen hat und andere dagegen ausschließt. Ohne die kulturelle Kompatibilität der Beteiligten ist sie nun mal nicht zu haben.

Als entschiedene Verteidigerin der Hochkultur kritisiert sie die Nivellierung, ohne freilich die politische und ökonomische Dimension des Problems auszumessen. Der französische Schriftsteller Richard Millet hat sie so formuliert: „Wenn weder die Intelligenz noch die Kenntnis der Nationalsprache durch die Literatur, noch die Sorge, sich richtig auszudrücken, vorhanden ist, wird man zum Dritte-Welt-Volk“, und zwar durch „die Verdrittweltlichung der Nationalsprachen, über die der Liberalismus die Herrschaft des Marktes etabliert.“ Die globale Ökonomie als den großen Gleichmacher vernachlässigt Dorn völlig, und die Liberalismus-Kritik liegt ihr ohnehin fern.

Das Erscheinen ihres Buches war Anlaß für zahlreiche Interviews, Artikel und Fernsehbeiträge. In der Zeit erklärte die Autorin, keine Sekunde daran gedacht zu haben, die „Gemeinsame Erklärung 2018“ zu unterschreiben, denn eine „illegale Masseneinwanderung“ gäbe es schlichtweg nicht mehr. Auch in ihrem Buch hat sie penibel die Seitenlinien des geltenden Meinungskorridors beachtet, was nicht ausschließt, daß sie sich immer wieder mal den Reiz des Überschreitens leistet. Jeder Regelübertritt wird doppelt und dreifach kompensiert.

Gefühlt auf jeder zweiten Seite bekennt sie, wie sehr sie die Alte und Neue Rechte verabscheut, die Gaulands und Sarrazins, die AfD, Carl Schmitt, natürlich auch Weißmann, Kubitschek, die Identitären sowie die „deutschen Horden, die sich vor Flüchtlingsunterkünften zusammenrotten“. Sie belustigt sich über Rolf Peter Sieferles vermeintliche Latein-Fehlleistung „Finis Germania“, was doppelt peinlich ist, weil sie sich an sein „Migrationsproblem“ nicht herantraut, obwohl (oder gerade weil) es sich um die wichtigste und geistvollste Publikation zum Thema handelt.

Stattdessen lobt sie Marina und Herfried Münklers „Die neuen Deutschen“, das schon vor dem Erscheinen im Praxistest durchgefallen war. Entgangen ist ihr, daß Münkler in seinen besseren Büchern intensiv Carl Schmitt rezipiert. Es wäre ein leichtes, aber auch ein bißchen gemein, die Schulbuch-Klischees, Kenntnislücken und Simplifizierungen aufzuzählen, die Dorn im politisch-historischen Erzählstrang aneinanderreiht.

Kein Verständnis hat sie für das Zögern der westdeutschen Ministerpräsidenten 1948, das Grundgesetz zu verabschieden. Als Kronzeugen zitiert sie den amerikanischen Militärgouverneur Lucius D. Clay, der sich darüber empörte, daß die Deutschen die Vollmachten, die er ihnen übergeben wollte, gar nicht haben wollten. Ihr Kommentar: „Willkommen bei den Unpolitischen.“ 

Sie hätte sich bei dem SPD-Politiker Carlo Schmid kundig machen sollen, der im Parlamentarischen Rat seine Bedenken zu Protokoll gegeben hatte: Mit dem geplanten westdeutschen Staat entstünde keine echte politische Gewalt, weil er die „Anerkennung der fremden Gewalt als übergeordneter und legitimierter Gewalt“ voraussetze. So „entsteht lediglich ein Organismus mehr oder weniger administrativen Gepräges“, was bedeute, daß die Deutschen „die letzte Hoheit über sich selbst und damit die Möglichkeit zu letzter Verantwortung“ nicht besäßen. Politischer kann man nicht argumentieren!

Schmid stimmte trotzdem zu, weil er – wie Adenauer und andere – an die Möglichkeit glaubte, mit der Bonner Republik die „letzte Hoheit“ sukzessive zurückzugewinnen. Tatsächlich hat die Bundesrepublik mit dem Zwei-plus Vier-Vertrag die Attribute staatlicher Souveränität zurückerhalten. Trotzdem muß Dorn konstatieren, daß die politische Mentalität von „winselnder Harmlosigkeit“ (Karl Heinz Bohrer) bestimmt wird. Auflösen kann sie diesen Widerspruch auch deshalb nicht, weil sie die „Reeducation“ („Umerziehung“) als geistig-moralische Entwicklungshilfe der Alliierten interpretiert, die den Deutschen die Überwindung ihres unheilvollen „Sonderwegs“ erleichtern wollten.

Tatsächlich führte sie die Bundesdeutschen zu der fatalen Einsicht, daß deutsche Macht grundsätzlich unmoralisch und die „letzte Hoheit“ bei den Vormächten gut aufgehoben wäre. Von „letzter Verantwortung“ befreit und durch den wirtschaftlichen Erfolg verwöhnt, leistete man es sich, Politik von einem angeblich höheren, moralischen Standpunkt zu betrachten. Das Ergebnis war ein grundsätzlicher politischer Infantilismus, der zwischen Unterwürfigkeit, Besserwisserei und maulendem Antiamerikanismus schwankt.

Deshalb war die Bundesrepublik 1990 mit dem Eintritt in die gesamtdeutsche Souveränität und Verantwortung heillos überfordert. Die aktuelle Unfähigkeit zum Grenzschutz und die „Flüchtlingskrise“ sind der Beweis, daß sie über keinen inneren Halt und keine „letzte Hoheit“ verfügt. Dieses politische Manko kann kein Kulturpatriotismus ausgleichen!

Falsch liegt die Autorin mit der Annahme, die Ostdeutschen hätten sich 2015 angesichts der Fernsehbilder von westdeutschen Bahnsteigen, wo euphorisierte Teddybär-Werfer die Ankunft der Flüchtlingszüge begrüßten, wie aufgegebene Stiefkinder gefühlt, die feststellen, daß ihre Adoptiveltern sich neuen Schützlingen zuwenden. Nein, sie hatten – frei nach Ingeborg Bachmann – das Gefühl, unter Hippies und Jubelidioten gefallen zu sein und sich von ihnen emanzipieren zumüssen.

Das Buch weist zahlreiche Qualitäten auf. In der Summe aber ist es ein Spiegelbild jenes konsensualen Elends, das seine Autorin eigentlich beheben wollte.

Thea Dorn: Deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. Albrecht Knaus Verlag, München 2018, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro