© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Parteien, Privilegien und die Alternative für Deutschland
Das wichtigste Kapital
Konrad Adam

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer überaus wechselvollen Vergangenheit ist so, wie sich das gehört: Es ist umstritten. Nur in zwei Punkten herrscht Einigkeit: daß die zwölf Jahre vor 1945 eine Schreckenszeit ohnegleichen und die Jahre danach, die Nachkriegszeit, eine einzige Erfolgsgeschichte waren. „Die geglückte Demokratie“ lautet der Titel einer Geschichte der Bundesrepublik, erschienen 2006. Gleich auf den ersten Seiten stellte der Autor fest, daß der Erfolg „nach simplen Kriterien“ nicht zu leugnen sei. Als solche Kriterien nennt er Stichwörter wie Modernisierung und Innovation, Liberalisierung, Demokratisierung und so weiter. Adenauers Festlegung auf die Prinzipien Marktwirtschaft und Westbindung habe sich bewährt und das Land auch in den Augen ausländischer Beobachter zu einem Anker der Stabilität gemacht.

Stabilität, das hieß vor allem Berechenbarkeit, die ihrerseits als das Ergebnis des festgefügten deutschen Parteiensystems angesehen wurde. Daß Bonn (und später dann Berlin) die traurigen Erfahrungen der Weimarer Republik erspart blieben, wurde der Weisheit des Grundgesetzes gutgeschrieben, das sich der Prüderie der ehemaligen Reichsverfassung verweigert und die Parteien ausdrücklich anerkannt hatte. Tatsächlich wurden sie, um an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, mit zahlreichen Privilegien ausgestattet, die sie dann auch entschlossen nutzten. Keine zwanzig Jahre nach Gründung der Republik stellte Johannes Gross, als Journalist ebenso einflußreich wie als Berater Ludwig Erhards, voller Genugtuung fest, daß alle Versuche, eine neue Partei zu gründen, den Anblick des Verzweifelten, Aussichtslosen und Absurden böten. Längst sei klar, daß jeder, der politisch Karriere machen wolle, sich einer der drei eingeführten Parteien zuwenden müsse.

Ganz so klar offenbar doch nicht. Es dauerte nicht allzu lange, bis mit den Grünen eine neue Partei entstanden war, die der alten Trinität aus CDU/CSU, SPD und FDP die Stirne bot. Die Grünen hatten ein Thema aufgegriffen, das die auf Wirtschaft, Wohlstand und Wachstum abgerichteten Altparteien vernachlässigt hatten, den Natur- oder, wie er moderner hieß, den Umweltschutz. Wäre die Union die konservative Kraft gewesen, als die sie sich nach außen darzustellen pflegte, hätte dies genuin konservative Thema bei ihr landen müssen. Von Helmut Kohl und Heiner Geißler aufs „Weiter so!“ getrimmt, hatte sie dieses Zukunftsthema allerdings links liegenlassen. So verbündeten sich die Grünen mit der SPD und bildeten zusammen mit ihr in Hessen die erste rot-grüne Landesregierung. Irgendwann hatten dann auch Schwarze und Grüne ihre gegenseige Abneigung überwunden und waren zum gemeinsamen Regieren bereit.

Kürzlich ist nun der AfD geglückt, was bisher nur den Grünen gelungen war: in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Sie besetzt die Stelle, die durch Angela Merkels Technik der asymmetrischen Demobilisierung, durch ihr erfolgreiches Wildern in den Erblanden der Linken also, leer geworden war. Es war nicht der erste Anlauf dieser Art – die Republikaner und der Bund freier Bürger, die Schill- und die Statt-Partei, „Die Freiheit“ und die „Pro“-Bewegungen hatten ähnliches versucht, waren aber allesamt an den in Deutschland tiefsitzenden Vorbehalten gegen Rechts gescheitert.

Die AfD schlug sich vor allem deshalb besser, weil sie, ähnlich wie seinerzeit die Grünen, ein Thema entdeckt hatte, das die anderen, europahörigen Parteien vernachlässigt hatten: die Legitimationskrise der Europäischen Union. Denn darauf lief es ja hinaus, wenn die AfD die Rechts- und Vertragsbrüche einer Bürokratie anprangerte, die ihre Aufträge von oben, nicht von unten, nicht vom Volk, sondern von den Regierenden empfing. Das abschreckende Beispiel war Griechenland, wo ein demokratisch schwach oder gar nicht legitimiertes Gremium, die Troika, bestehend aus je einem Vertreter der EZB, des IWF und der Euro-Gruppe, eine gewählte Regierung aus dem Amt gejagt, ein ganzes Parlament entmündigt und Millionen von Bürgern faktisch das Wahlrecht entzogen hatte.

In ihren Anfängen war die AfD alles andere als radikal, sie war nicht einmal rechts, es sei denn, man wollte das Eintreten für den Grundsatz, daß jede Art von legitimer Herrschaft auf die Zustimmung der Machtunterworfenen angewiesen ist, als rechts bezeichnen. 

So etwas galt als Fremdherrschaft. Die fremden Herren waren unbeliebt, sie wurden bekämpft, vertrieben oder, wo das nicht möglich war, aufs Schafott geführt. Derartige Prozeduren überflüssig gemacht und den Bürgern erlaubt zu haben, einen mißliebigen Herrscher ohne Blutvergießen loszuwerden, hat Karl Popper als den großen Vorzug der Demokratie gepriesen. Aber wie eine Herrschaft loswerden, die sich nicht nur einmal, sondern immer wieder, in Frankreich, Irland und den Niederlanden, über das Votum der Wähler hinweggesetzt hatte? Die sich wie eine absolutistische Macht aufführt und, angesprochen auf ihre Legitimation, zur Antwort gibt, sie habe ihr Mandat ja nicht vom europäischen Bürger erhalten. Den es, da hat sie recht, bis heute auch nicht gibt. So daß die europäische Demokratie in der Luft hängt.

Das war das große Thema der AfD. Zumindest in ihren Anfängen war sie alles andere als radikal, sie war nicht einmal rechts, es sei denn, man wollte das Eintreten für den Grundsatz, daß jede Art von legitimer Herrschaft auf die Zustimmung der Machtunterworfenen angewiesen ist, als rechts bezeichnen. Auf ihrem Berliner Gründungsparteitag berief sie sich auf den Erzliberalen Ralf Dahrendorf, der immer wieder daran erinnert hatte, daß es ein Beispiel für eine funktionierende Demokratie jenseits der nationalen Grenzen bis dato nicht gebe. Ein Land mit geschlossenen Grenzen wird zum Gefängnis, eine Welt ohne Grenzen wird zur Wüste. Die Demokratie braucht Grenzen, denn Mehrheiten lassen sich nur dort ermitteln, wo klar ist, wer Bürger ist, wer wählen darf, wer also dazugehört, vor allem aber auch: wer nicht. In der Union ist das bis heute nicht klar.

Die Frage stellte sich von neuem, als der Partei mit den fatalen Konsequenzen von Angela Merkels kopfloser Flüchtlingspolitik ein weiteres, brisantes Thema in den Schoß gefallen war. Diesmal berief sie sich auf André Glucksmann, einen Linken. Wie der gesagt hatte, haben alle Bürger dieser Welt das Recht, ihr Land zu verlassen, doch keiner von ihnen hat das Recht, in jedes beliebige Land einzureisen und sich dort dauerhaft niederzulassen. Glucksmann wurde deutlich: „Eine Demokratie, die sich dazu herbeiließe, jeden, der das wünscht, bei sich aufzunehmen, würde diese Regelung nicht überleben.“ Das fürchtete auch die AfD, das wollte sie nicht.

Man muß keine rechten Klischees bemühen, um gegen die Merkelsche Flüchtlingspolitik aufzubegehren und die humanitären Phrasen, mit denen sie bis heute verteidigt wird, als Ausreden zu betrachten. Linke und liberale Stimmen klingen ja ganz ähnlich, sofern sie denn aus England oder Frankreich kommen. Die Deutschen ziehen es vor, auf ihrem humanitär genannten Sonderweg zu bleiben und ihre Nachbarn zu einer Flüchtlingspolitik zu drängen, von der man jenseits der deutschen Grenzen nicht viel hält. Damit isolieren sie sich zunehmend und gefährden, was sie angeblich retten wollen, den Bestand der Europäischen Union.

Es ging und geht um die Verteidigung von Freiheit und Sicherheit oder, wie der vorsichtige Montesquieu seinerzeit formuliert hatte: um die Überzeugung, man habe seine Sicherheit. In beiden Fragen entscheidet letztlich das Gefühl, denn nur so lange, wie man keine Angst vor den Folgen haben muß, wird man dazu bereit sein, von seinen Freiheitsrechten auch Gebrauch zu machen. Die alte Regel, wonach sich die Freiheit im Inneren umgekehrt proportional zum Druck auf die Außengrenzen verhält, stimmt immer noch. Freiheit ist auf Grenzen angewiesen; die Kölner haben das erfahren, als sie sich dazu gezwungen sahen, mit ihren „Sicherheitszonen für Frauen“ innerhalb der Stadt neue Grenzen zu errichten, nachdem die alten unter dem Ansturm von „Flüchtlingen“ aus aller Welt gefallen waren. Auf Grenzen zu verzichten, führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Freiheit.

Glaubwürdig wird man dadurch, daß das, was man tut, nicht allzu weit hinter dem zurückbleibt, was man sagt. Mit ihren Ankündigungen, den Wildwuchs der Parteibuchwirtschaft zu beschneiden, ist die AfD weiter als jede andere Partei gegangen.

Noch bevor Angela Merkels Politik der offenen Grenzen den Deutschen Gelegenheit gab, sich in dieser uralten Erfahrung bestätigt zu sehen, kam der Essener Parteitag im Juli des Jahres 2015. Von den Folgen dieser hochemotionalen Massenveranstaltung hat sich die Partei bis heute nicht erholt. Um die Spaltungs­tendenzen, die mit der turbulenten Abwahl Bernd Luckes und der vorübergehenden Inthronisation von Frauke Petry offensichtlich geworden waren, nicht weiter einreißen zu lassen, wurden sämtliche Parteiordnungsverfahren niedergeschlagen: ein Kraftakt, der nichts besser, aber manches schlechter gemacht hat, da er den dunklen Ehrenmännern und gewieften Powerfrauen zugute kam, die sich beim Aufbruch einen Platz an der Spitze erobert hatten. Dort blieben sie nun sitzen und sorgten dafür, daß die Partei im Inneren keine Ruhe fand und nach außen hin aus den Schlagzeilen nicht mehr herauskam.

Die Lage war schwierig, wird wohl auch weiter schwierig bleiben. Als jüngste Mitbewerberin im Kampf um die Macht muß die AfD nach Regeln spielen, die von der Konkurrenz ausgehandelt und durchgesetzt worden sind. Es waren ja die Altparteien, die aus dem öffentlichen Amt einen Beruf gemacht haben, der Leute anzog, die sich zur Politik berufen fühlen, auch wenn sie das nicht sind. Markus Pretzell und Frauke Petry sind nicht die einzigen, nur die bekanntesten Vertreter dieser Gattung.

Verständlich, daß die AfD auf Chancengleichheit pocht; nur war sie ja mit dem Versprechen angetreten, es nicht nur anders, sondern besser zu machen als die anderen. In ihrem Programm nimmt die Kritik am eingefahrenen Parteibetrieb und seinen abenteuerlichen Auswüchsen denn auch breiten Raum ein. Die Vorschläge reichen von der Verkleinerung des Bundestages über die Trennung von Amt und Mandat, die Begrenzung von Nebentätigkeiten und die Reform der maßlos überdehnten Parteienfinanzierung bis zur Kritik an den üppigen Privilegien der Volksvertreter.

Das ärgerlichste von diesen Privilegien ist zweifellos der hohe Altersruhegeld­anspruch, zu dem die Abgeordneten, anders als das gemeine Volk, allerdings keine eigenen Beiträge leisten müssen. Es ist das ärgerlichste, allerdings auch das wertvollste ihrer Privilegien, weshalb alle Versuche, es einzuschränken oder abzuschaffen, am Widerstand der Privilegierten gescheitert sind. Als die Versorgungsansprüche der Volksvertreter im Bundestag und in den Landtagen von Stuttgart oder Mainz wieder einmal angepaßt, also erhöht werden sollten, widersprach als einzige Fraktion die AfD. Sie wurde niedergestimmt, besonders eifrig von den Grünen, denen das süße Gift von Macht und Geld zu Kopfe gestiegen ist. In einer Monographie unter dem Titel „Selbstbedienung in Südwest-Manier“ hat der bekannte Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim das räuberische Verfahren der Altparteien angeprangert; natürlich ohne jeden greifbaren Erfolg.

Es sind solche und ähnliche Themen, an denen das Schicksal der AfD hängen dürfte. Denn sie entscheiden über das wichtigste Kapital einer politischen Partei, über die Glaubwürdigkeit ihrer Vertreter. Glaubwürdig wird man dadurch, daß das, was man tut, nicht allzu weit hinter dem zurückbleibt, was man sagt. Mit ihren Ankündigungen, den Wildwuchs der Parteibuchwirtschaft zu beschneiden, ist die AfD ziemlich weit gegangen, weiter als jede andere Partei. Angetreten als Protestbewegung, die den Abstand zwischen oben und unten, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen dem Volk und seinen Vertretern verkürzen wollte, muß sie, wie es im Jargon der Marktwirtschaftler heißt, jetzt liefern. Tut sie das nicht, blüht ihr das gleiche Schicksal wie der FDP, die abgewählt wurde, nachdem sie sich gewaltig aufgeblasen hatte, aber nichts von dem durchzusetzen vermochte, was sie ihren Wählern versprochen hatte.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Gemeinwohl und dessen Leugnung („Ihre Interessen statt unsere“,  JF 50/17).

Foto: Plakat mit dem Konterfei der ehemaligen Bundessprecherin Frauke Petry: Es waren die etablierten Parteien, die aus dem öffentlichen Amt einen Beruf gemacht haben, der Leute anzog, die sich zur Politik berufen fühlen, auch wenn sie  das nicht sind.