© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

Viva l’Italia!
Italienische Mentalität und deutsche Stabilität: Rom kann mit dem Euro wirtschaftlich nicht überleben
Manfred Brunner

Als jüngst in der Passionszeit die Arie „Erbarme Dich“ aus Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion von einem griechischen Freund in seinen Blog gestellt wurde, konnte ich miterleben, wie er von seinen Mitbürgern Reaktionen der eigenen Art erntete. „Und das auf deutsch“ und „Wußte gar nicht, daß die deutsche Sprache das Wort ‘Erbarmen’ kennt“ waren noch die zurückhaltendsten Kommentare. Wird es nach der Entfremdung zwischen Griechenland und Deutschland nun auch zu einer Entfremdung zwischen Italien und Deutschland kommen?

Zunächst sollte das politische Deutschland zur Kenntnis nehmen, daß die Diskriminierung der nun regierenden Anti-Establishment-Parteien in den deutschen Medien, allen voran in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, in Italien auf Unverständnis, ja auf Zorn stößt. Die Italiener lesen in ihren Zeitungen und hören durch Telefonanrufe ihrer in Deutschland lebenden Verwandten und Freunde, daß sie rechtsextreme und verachtenswert populistische Parteien gewählt hätten. Mag man sich bei uns mit einem Achselzucken daran gewöhnt haben, daß im politischen Diskurs zwischen Rechts und Rechtsextrem nicht mehr unterschieden und Populismus als Schimpfwort verwendet wird, aber nun wird diese verquere deutsche Eigenart auf Italien projiziert. Dessen Bevölkerung fühlt sich dadurch mißverstanden, auf arrogante Weise belehrt und beleidigt. Erkennen wir an: Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 30 Prozent, in Süditalien sogar von 50 Prozent, kann man es den italienischen Wählern nicht verübeln, wenn sie nach einer politischen Alternative suchen – die sich zudem im Rahmen der italienischen Verfassung bewegt.

Von deutscher Seite sollte zudem akzeptiert werden, daß Italien mit dem Euro wirtschaftlich und damit auch gesellschaftlich auf Dauer nicht überleben kann. Nicht zuletzt wegen der besonderen Verhältnisse des italienischen Südens, aber auch allgemein aus wirtschaftlichen und Mentalitätsgründen war Italien immer ein Weichwährungsland. Die Älteren von uns werden sich noch erinnern, daß man in den 1960er Jahren für eine D-Mark etwa 200 Lire bekam, Ende der neunziger Jahre aber bereits 1.200 Lire. Italien mußte seine Wettbewerbsfähigkeit stets durch einen gewissen Währungsverfall herstellen. Es ist deshalb nicht so verrückt, wie es in unseren deutschen Ohren klingt, wenn die neue italienische Regierung nun anstelle der ihr nicht mehr möglichen schrittweisen Währungsanpassung einerseits die schrittweise Streichung von Staatsschulden fordert und andererseits die Anerkennung einer weiteren Steigerung ihrer Staatsverschuldung.

Umgekehrt können die neuen italienischen Regierungsparteien und ihre Anhänger nicht schnell genug begreifen, daß Deutschland dieser Ausweg versperrt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil die Forderungen unseres Grundgesetzes an einen europäischen Staatenverbund aufgezählt. So heißt es, den Mitgliedstaaten sei die Pflicht auferlegt, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden. Auch sei der Europäischen Zentralbank eine Staatsfinanzierung nicht erlaubt. Das Europäische Vertragsrecht setze Vorgaben, die „letztlich – als Ultima ratio – beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht im Wege stehen“. Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft sei Grundlage des deutschen Zustimmungsgesetzes. Die italienische Regierung muß also verstehen, daß sich Deutschland nur im Rahmen dieses Gesetzes an der Währungsunion beteiligen darf.

Der Wählerauftrag auf italienischer Seite und die höchstrichterlich vorgenommene verfassungskonforme Auslegung der Wirtschafts- und Währungsunion – sie sind unvereinbar. Die Europäische Union wäre gut beraten, Italien bei einem schrittweisen Ausstieg aus dem Euro zu unterstützen. Die Ausgabe handelbarer staatlicher Kleinbetrags-Schuldscheine und damit die Schaffung einer Parallelwährung könnte ein möglicher, wenn auch nicht unproblematischer Lösungsansatz sein.

Keinen Ausweg bieten die Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Was die Zukunft der Europäischen Union anbetrifft, muß man den einzelnen Mitgliedstaaten mehr Luft lassen, anstatt das Korsett immer enger zu schnüren. Vor allem die Idee eines europäischen Währungsfonds, der Rettungskredite mit einer Laufzeit von 30 Jahren vergibt, die mit Auflagen für weitreichende Strukturreformen verknüpft wären, ist nach diesem Maßstab der falsche Weg. Der Élysée-Palast hat nun nach dem Europa-Interview der Bundeskanzlerin in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärt, Merkel nähere sich „bei allen Themen der europäischen Souveränität den französischen Zielen an“. Mit dem Begriff „europäische Souveränität“ wird mit begrüßenswerter Ehrlichkeit gesagt, daß es bei den von der deutschen Bundeskanzlerin im Grundsatz unterstützten französischen Vorstellungen um den Versuch geht, den Ausweg in einer europäischen Staatlichkeit zu suchen.

Souveränität bezeichnet im Völkerrecht die Unabhängigkeit eines Staates, über sich selbständig zu bestimmen. Beim Träger der Souveränität liegt die Kompetenz-Kompetenz, also das Recht, Zuständigkeiten zuzuweisen und zu verändern. Dies ist das Merkmal eines Bundesstaates. Nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts darf Deutschland aus Gründen des Demokratie-Gebotes lediglich einem Verbund souveräner Mitgliedstaaten beitreten, und diesem Verbund ist eine Kompetenz-Kompetenz in dem genannten Urteil ausdrücklich untersagt. Die Stunde der Wahrheit rückt näher.






Dr. Manfred Brunner, Rechtsanwalt, klagte 1993 gegen den Maastricht-Vertrag. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde zurück.