© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

Historisch verlaufen
„Vogelschiß“ als geschichtspolitische Kategorie? Ein AfD-Vorsitzender im Kampf um die Deutungshoheit
Björn Schumacher

Alexander Gauland, Bundessprecher und Fraktionschef der AfD im Deutschen Bundestag, löste wieder einmal mit einem geschichtspolitischen Exkurs eine Welle der Empörung aus. Gaulands Rede sei „beschämend“, erregte sich Regierungssprecher Steffen Seibert: „Die nationalsozialistische Herrschaft und das vom NS-Regime ersonnene Verbrechen des Holocaust sind singulär, ein echtes Menschheitsverbrechen. Unermeßliches Leid war die Folge in vielen Ländern, auch bei uns in Deutschland.“ 

Auch in seiner Partei fand Gauland kein einhelliges Placet. Wörtlich hatte er beim Bundeskongreß der Jungen Alternative (JA) im thüringischen Seebach gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiß in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Der Satz fiel nach einem Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für das NS-Regime mit Millionen ermordeten Juden und Millionen von Kriegstoten. Der Gescholtene versuchte sich herauszureden: Er habe den Schmähbegriff nicht als Klassifizierung der NS-Zeit im Verlauf der deutschen Geschichte verwandt, sondern den Nationalsozialismus per se „als Fliegenschiß“ verächtlich machen wollen.

Ist Gaulands „Vogelschiß“-Diktum diese Empörung wert? Betrachten wir eine im englischen Sprachraum populäre Forderung des Oxforder Rechts- und Staatsphilosophen H. L. A. Hart (1907–1992): „Wenn uns die reichen Mittel klarer Sprache zur Verfügung stehen, dürfen wir die moralische Kritik an Normen nicht als Thesen einer anfechtbaren Philosophie darbieten.“ Harts Appell, entstanden in einer Kontroverse um den angemessenen Umgang deutscher Nachkriegsjustiz mit dem Nationalsozialismus, hat durchaus eine geschichtswissenschaftliche Dimension. Sie läßt folgende Neuformulierung zu: Wenn uns die reichen Mittel klarer Sprache zur Verfügung stehen, dürfen wir Kritik an der etablierten Deutungshoheit nicht als anfechtbare Geschichtspolitik präsentieren.

„Vogelschiß“ hin, „Fliegenschiß“ her – von den „reichen Mitteln klarer Sprache“ kann bei Gaulands Metaphern keine Rede sein. Zum einen verstört die fäkalienlastige Wortwahl des AfD-Bundessprechers. Bei unbelehrbaren 68er-Aktivisten oder Deutschland-Hassern der Antifa wäre sie kaum aufgefallen. Aber welchen Anreiz bieten semantische Jauchegruben einem langjährigen CDU-Politiker, der 2002 eine anregende „Anleitung zum Konservativsein“ verfaßt hat? Was ihm als „verachtungsvollste Charakterisierung“ erscheint, löst bei seinen Kritikern ganz andere Empfindungen aus. Bei Lichte betrachtet sieht sich Gauland zwei verschiedenen Einwänden ausgesetzt.

Zum einen irritiert der Umstand, daß Gaulands verbale Kraftmeierei auf eine sehr dunkle Spanne deutscher Historie abzielt, die Jahre 1933 ff. Seine spätere Einlassung, der Begriff Fliegenschiß könne „niemals eine Verhöhnung der Opfer dieses verbrecherischen Systems“ sein, klingt nach konstruierter Selbstrechtfertigung. „Gauland stellt allein auf die Derbheit des Wortes Vogelschiß, nicht aber auf dessen semantische Bedeutung als „Bagatelle“ ab. Geschichtspolitik und Gedenkkultur haben auch etwas mit Pietät zu tun. Jörg Meuthens dezenter Hinweis auf die „unangemessene Wortwahl“ seines Parteifreunds verdient entschiedene Zustimmung. 

Zum anderen vermengt Gauland, der immer wieder gern geschichtspolitische Ausflüge unternimmt, quantitative mit qualitativer Geschichtsbewertung, womit er alle Pfade der Wissenschaft verläßt. Tatsächlich weist Geschichte immer wieder Kulminationspunkte auf – andere formulierten dies auch gern als „Höhe- und Wendepunkte“ –, die weit über ihre Zeitspanne die Politik ganzer Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte danach bestimmten. Auch wenn die nationalsozialistische Herrschaft – moderat formuliert – eine kurze Spanne „in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ darstellen mag, hat sie die neben dem Dreißigjährigen Krieg schlimmste Katastrophe unseres Landes heraufbeschworen. 

Ebenso wie die vor 400 Jahren beginnende frühneuzeitliche Katastrophe und ihre Folgen das Reich bis in unsere heutige föderale und konfessionelle Wirklichkeit prägten (JF 21/18), werden „die Stunde Null“ 1945 und die Verbrechen der Nationalsozialisten die innen- und außenpolitischen Parameter weit über das Zeitalter ihrer Zeitzeugen beeinflussen. Wer angesichts fortschreitender Einwanderung in deutsche Sozialkassen oder kaum verhohlener Zahlungsforderungen fremder Staatschefs über „Finis Germania“ (Rolf Peter Sieferle) grübelt, sollte nicht ausblenden, daß Deutschland am 8. Mai 1945 politisch, militärisch, wirtschaftlich und moralisch einen absoluten Tiefpunkt erreicht hatte. Auch Abermillionen deutscher Soldaten starben an der Front oder in Kriegsgefangenschaft, als Zivilisten in bombardierten Städten sowie bei der Flucht und Vertreibung aus Ostdeutschland und deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa – wo eine jahrhundertelange Geschichte abrupt endete –, dazu geschändete Frauen, umherirrende Kinder, verwahrloste Jugendliche – auch alles nur „Vogelschiß“?

Vor allem das Unrecht während der NS-Zeit, die gewalttätige und rücksichtslose Okkupation fast ganz Europas im Zweiten Weltkrieg, allen voran die systematische Ermordung von Millionen europäischer Juden, wirken im kollektiven Bewußtsein vieler Völker fort. Die von Kanzlerin Merkel beschworene „immerwährende Verantwortung“ – was auch immer das völkerrechtlich oder wirtschaftlich bedeuten mag –, klingt nach abgedroschener Begriffshülse. Ohne den Holocaust gäbe es diese Redeform allerdings nicht. 

„Nichtschuldkult“ darf nicht den „Schuldkult“ ersetzen

Was Gauland antreibt, läßt sich unschwer erraten. Es ist der Zorn über eine von Politik und Medien transportierte Geschichtsideologie mit nationalmaso-chistischen Zügen, die keineswegs nur „völkische“ Autoren als „Schuldkult“ geißeln. Diese Ideologie zelebriert eine Art Religionsersatz. NS-Verbrechen werden in immer neuen, bombastischeren Wendungen beklagt und sogar in die kollektive Schuld des ganzen Volkes gestellt („Ihr habt ja alle weggeschaut“). Kriegs- und Humanitätsverbrechen ehemaliger Kriegsgegner an Deutschen werden verschwiegen, heruntergespielt, beschönigt oder mit Hilfe des Transmissionsriemens „historischer Kontext“ ebenfalls dem NS-Regime, letztlich also der deutschen Nation, in die Schuhe geschoben. 

Dieser höchst einseitigen, würdelosen Gedenkkultur darf nicht die Zukunft gehören. Die von Björn Höcke initiierte „Wende um 180 Grad“ wirft aber gleichfalls Fragen auf. Der deutsche „Schuldkult“ darf nicht durch einen „Nichtschuldkult“ ersetzt werden, der keine unschuldigen Opfer der NS-Diktatur mehr kennt! 

Zudem ist es natürlich ausgemachter Unsinn, von „tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ zu schwadronieren. Gauland, der Geschichte studiert hat und mit einer rechtshistorischen Dissertation promoviert wurde, müßte das genauso wissen wie der Geschichtslehrer Höcke. Bis auf kurze Phasen – auch die Befreiungskriege oder Bismarcks so oft von Gauland beschworenes Staatenmodell in Europa waren zeitlich überschaubar – war unsere Geschichte eben kein reiner Triumphzug, sondern seit dem frühen Mittelalter auch eine Kette von Katastrophen, Irrtümern und Brüchen. Vieles, was Deutschland und die Deutschen ausmacht – und vielleicht auch später erfolgreich gemacht hat –, gründet sich gerade in diesem eher holprigen Schicksalsweg.  

Die Umrisse einer ausgewogenen, rationalen Geschichtspolitik in der AfD, vielleicht sogar mit Korrekturen in der Gewichtung von Erfolg und Tragik, sind nach vielen bisherigen Wortmeldungen aus ihren Kreisen nur schemenhaft erkennbar. Um geschichtspolitische Pflöcke zu markieren, braucht es mehr Nüchternheit statt Pathos und den Willen zur Wahrhaftigkeit. Nicht zuletzt braucht es dazu aber auch die von H. L. A. Hart verlangten „reichen Mittel klarer Sprache“: „Vogelschiß“ gehört sicher nicht dazu.