© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

Organstreitverfahren des Deutschen Bundestages
Kompetenzen überschritten
Alexander Heumann

Die Flüchtlingskrise ist nicht beendet. Nach wie vor reisen allein an der bayerischen Grenze monatlich etwa 15.000 Asylbewerber nach Deutschland ein. Und wie viele über „grüne“, unkontrollierte Grenzen kommen, weiß niemand. Nähme man die neue Idee der „Ankerzentren“ ernst, müßten also permanent weitere Lager errichtet werden.

Alles steht und fällt mit der Einreise: Wer einmal „drin“ ist, kann regelmäßig bleiben – egal, wie sein Asylverfahren ausgeht. Hunderttausende rechtskräftig Abgelehnte werden geduldet. Abschiebungen scheitern meist schon an fehlenden Pässen oder dem Unwillen von Herkunftsländern, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Zudem dürfen selbst Schwerkriminelle nicht dorthin verbracht werden, wo ihnen unmenschliche Behandlung droht. Ab der Einreise greifen Menschenrechte: Die Bundesrepublik muß für die Unterbringung sorgen und ist zur Bautätigkeit verpflichtet. Alle Asylbewerber haben Anspruch auf Sozialleistungen, und das Bundesverfassungsgericht verbat dem Gesetzgeber, „pauschal nach dem Aufenthaltsstatus zu differenzieren“ – eine insgesamt fatale Situation.

Bei der Organklage des Bundestages gegen die Bundesregierung geht es um die Mitwirkungsrechte des Bundestages, also um Gewaltenteilung im Rechtsstaat: Durften Kanzlerin bzw. Regierung im Alleingang über die Grenzöffnung entscheiden?

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach von einer „Herrschaft des Unrechts“, will diese aber fortsetzen. Deshalb erhob die AfD-Bundestagsfraktion am 14. April 2018 – stellvertretend für den Bundestag – beim Karlsruher Verfassungsgericht eine Organklage gegen die Bundesregierung (Az. 2 BvE 1/18). Sie richtet sich gegen die seit Herbst 2015 gültige Anordnung, Asylbewerbern, die über sichere Drittstaaten wie etwa Österreich kommen, die Einreise nach Deutschland zu gestatten.

Das Gericht soll sich endlich mit dem Thema Grenzöffnung befassen. Schon 2016 gingen Verfassungsbeschwerden gegen die Asylpolitik ein, unter anderem von dem Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider. Doch auch seine Antragsschrift wurde, ohne jede Begründung, nicht zur Entscheidung angenommen.

Beim Organstreit ist es Karlsruhe verwehrt, so zu verfahren. Allerdings geht es hier „nur“ um Mitwirkungsrechte des Bundestages, also um Gewaltenteilung im Rechtsstaat: Dürfen Kanzlerin bzw. Bundesregierung im Alleingang über die Grenzöffnung entscheiden? Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers besteht nur im Rahmen von „Gesetz und Recht“ (Artikel 65 sowie 20, Abs. 3 GG), wir haben glücklicherweise keinen Führerstaat mehr. „Wesentliche“ Entscheidungen, die weitreichende Auswirkungen auf die allgemeinen Lebensverhältnisse haben, müssen nach ständiger Karlsruher Rechtsprechung vom Parlament getroffen werden.

An der Wesentlichkeit bestehen wenig Zweifel. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nord­rhein-Westfalen a. D., Michael Bertrams, stellte klar: „Kann schon die Entsendung einiger hundert Soldaten nach Mali nur mit Zustimmung des Bundestags erfolgen, dann ist diese erst recht erforderlich, wenn es um die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge geht.“ „Keine Entscheidung seit der Wiedervereinigung wird Deutschland so sehr verändern wie die Öffnung der Schleusen für über eine Million Flüchtlinge allein im Jahr 2015“, befand auch der Staatsrechtler Dietrich Murswiek.

Doch die nur sechsmonatige Klagefrist könnte verstrichen sein. Schon im Januar 2016 antwortete die Bundesregierung auf eine Parlamentsanfrage: „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze um Schutz nachsuchender Drittstaatsangehörige kommen derzeit nicht zur Anwendung.“ Hier offenbarte sie den Beschluß, „Drittstaatsangehörigen bei Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten“.

Aber begann dadurch die Frist zu laufen? Voraussetzung wäre nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz, daß die Maßnahme, hier die Grenzöffnung, „bekannt geworden“ ist. Im September 2015 hatte der damalige Innenminister Thomas de Maizière öffentlich verkündet, daß man wieder Grenzkontrollen einführe, um den „Kontrollverlust“ zu beenden. Seine Anordnung, jedem, der das Zauberwort „Asyl“ ausspricht, den Grenzübertritt zu gestatten, verschwieg er aber. Sie wird – sieht man von schriftlicher Beantwortung parlamentarischer Anfragen ab – nur mündlich hinter den Kulissen kommuniziert.

Ulrich Vosgerau, der Prozeßvertreter der AfD, erläuterte auf einer Pressekonferenz, daß es auf die Kenntnis des Antragstellers ankommt, hier also der AfD-Bundestagsfraktion. Diese existiert erst seit 24. Oktober 2017 – dem Tag, an dem der Bundestag erstmals in dieser Legislaturperiode zusammentrat. Demnach wurde die Klage am 14. April 2018 rechtzeitig eingereicht.

Kluge Frage eines Journalisten: Dann dürfe die AfD ja alle Verstöße gegen parlamentarische Beteiligungsrechte seit der Adenauerzeit angreifen. Das könne natürlich nicht sein, bestätigt Vosgerau. Aber das Gesetz ermöglicht die Beanstandung von Unterlassen. Jedenfalls das auch seit 24. Oktober 2017 fortdauernde Unterlassen der Bundesregierung, Asylbewerber aus sicheren Drittstaaten zurückzuweisen, könne als Streitgegenstand nicht verfristet sein.

Aber auch hinsichtlich der in der vorherigen Legislaturperiode erfolgten „großen Grenzöffnung“ komme die Klage nicht zu spät, legt Vosgerau in seiner Antragsschrift dar: Man dürfe die Frist nicht so verstehen, als ob sie ausgerechnet „informelles, heimliches, konspiratives (…) Regierungshandeln durch schnelle Verfristung für unangreifbar erklären“ wolle. Wer „Deutschland nach Art einer Räuberbande regiert“, könne sich nicht auf Verfristung berufen, denn dies meine die Vorschrift „von vornherein nicht.“

Falls die Klage die Zulässigkeitsschranken überwindet, stellen sich weitere Fragen: Nach dem Asylgesetz ist Asylbewerben die Einreise zu verweigern, wenn sie aus „sicheren Drittstaaten“, insbesondere EU-Staaten einreisen. Von der Einreiseverweigerung ist aber in zwei Fällen abzusehen: Erstens, „soweit“ die Bundesrepublik nach der Dublin-Verordnung für die Asylverfahren zuständig ist. Zweitens, wenn es der Innenminister aus humanitären oder politischen Gründen anordnet. Auf welche der beiden Möglichkeiten die Bundesregierung die Grenzöffnung stützt, teilt sie bis heute nicht mit.

Davon hängt die Rechtmäßigkeit aber ab. Denn gegen parlamentarische Mitwirkungsrechte würde nicht verstoßen, wenn Deutschland nach der Dublin-Verordnung zuständig wäre und schon deswegen Asylbewerber einreisen lassen müßte. Genau das behaupten einige Migrationsexperten, darunter Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz. Das Bundesverfassungsgericht wird das zu prüfen haben.

Zwar sind grundsätzlich die EU-Außenstaaten zuständig. Ausnahmsweise kann aber auch Deutschland zuständig sein. Zum Beispiel, wenn bereits Verwandte des Asylbewerbers hier leben. Oder wenn primär zuständige Länder Mängel im Asylsystem aufweisen, die die Gefahr unmenschlicher Behandlung mit sich bringen. Daher halten Thym und andere Deutschland für verpflichtet, alle Asylbewerber einreisen zu lassen, um „Zuständigkeitsfeststellungsverfahren“ durchführen zu können. Stelle sich die Unzuständigkeit heraus, müßten eben „Überstellungsverfahren“ in zuständige Staaten bewerkstelligt werden – die aber meist scheitern, schon wegen kurzer Fristen.

Welcher Staat „Zuständigkeitsfeststellungsverfahren“ an Grenzübergängen zwischen zwei EU-Binnenstaaten durchführen muß, ist in der Dublin-Verordnung geregelt (Artikel 20, Absatz 4): Wenn ein Asylbewerber seinen Antrag bei Behörden eines Mitgliedstaats stellt, während er sich noch „im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält“, bleibt letzterer zuständig für die „Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“. Andernfalls würden Transitländer für das rechtswidrige Durchwinken von Asylanten belohnt, was dem Sinn der Dublin-Verordnung zuwiderliefe, urteilen vier namhafte Juristen (Alexander Peukert u. a., FAZ-online vom 9. Februar 2016). Ergebnis: Nicht Deutschland, sondern Österreich muß an der bayrisch-österreichischen Grenze die „Zuständigkeitsfeststellungsverfahren“ durchführen. Deutschland darf daher Einreisen aus Österreich verweigern.

Damit bleibt nur die Ministeranordnung als Rechtfertigung übrig. Daß diese komplett rechtswidrig ist, ergibt sich im übrigen aus folgendem: Das Asylgesetz läßt ministerielle Ausnahme-Weisungen nur bei Einreisen aus sicheren Drittstaaten zu, nicht jedoch bei fehlenden Pässen und Visa. Nach dem Aufenthaltsgesetz sind Drittstaatler schon dann an den Grenzen zurückzuweisen, wenn sie „unerlaubt“, das heißt ohne Papiere und Schengenvisum einreisen (§ 15). Das ist sogar strafbar, auch für Helfer und Anstifter (§ 96, Schleuserei).

Zwar gibt es auch hier Ausnahmen, bei denen Grenzbeamten die Zurückweisung untersagt ist, denn die humanitären Abschiebeverbote (§ 60) sind schon beim Grenzübertritt „entsprechend anzuwenden“ (§ 15 IV). Diese Abschiebeverbote sind jedoch zielstaatsbezogen: Sie betreffen nur Staaten, in denen menschenwidrige Behandlung droht. Eine Zurückweisung an der Grenze zu EU-Staaten schließen sie nicht aus. Hierin liegt der Kern der „Herrschaft des Unrechts“. Doch dies verbindlich festzustellen, ist Karlsruhe aus prozessualen Gründen verwehrt. Hierzu könnte sich das Gericht allenfalls nebenbei, in einem sogenannten obiter dictum äußern – wenn es denn will.

Das aber ist kaum anzunehmen. Bestenfalls wird das Gericht feststellen, daß Mitwirkungsrechte des Bundestages verletzt werden. Und dann? Im März 2018 lehnten 85 Prozent der Abgeordneten eine Gesetzesvorlage der AfD ab, die Grenzen umfassend zu kontrollieren und Asylbewerber an der Einreise zu hindern. Skrupel, den Staatsstreich notfalls per Gesetz zu legitimieren, sind also nicht zu erwarten.

Im März lehnten 85 Prozent der Abgeordneten eine Vorlage ab, die Grenzen umfassend zu kontrollieren und Asylbewerber an der Einreise zu hindern. Skrupel, den Staatsstreich notfalls per Gesetz zu legitimieren, sind also nicht 

zu erwarten.

Gegen ein solches Gesetz könnte wiederum Karlsruhe angerufen werden. Die erforderlichen 25 Prozent des Bundestages würden sich kaum finden lassen, aber auch Landesregierungen können Normenkontrollklagen erheben. Zu denken wäre an Bayern, wo Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dann Farbe zu bekennen hätte.

Der wahre Problembär sitzt aber in Brüssel. Einerseits erlaubt der Schengener Grenzkodex systematische Grenzkontrollen nur für zwei Jahre. Diese Galgenfrist ist 2017 verstrichen. Dementsprechend drohte der EU-„Migrations-Kommissar“ jüngst, deutsche Grenzkontrollen nicht mehr lange zu akzeptieren.

Andererseits dürfen Asylbewerber an EU-Außengrenzen nicht zurückgewiesen werden (Dublin-Verordnung, Artikel 3), und der Schengener Grenzkodex nimmt sie von strengen Einreiseformalitäten ausdrücklich aus. Die EU verspricht allen Flüchtlingen „internationalen Schutz“: Das meint nicht nur „politisch Verfolgte“, sondern alle, denen „in ihrem Heimatland“ erheblicher Schaden droht – und geht damit weit über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus! Jeder, der an EU-Grenzen klopft, soll ein Asylverfahren erhalten. Von „Obergrenzen“ ist keine Rede.

Die meisten Bürger haben wohl noch nicht realisiert, daß EU-Recht selbst nationalen Verfassungen vorgeht und was dies perspektivisch bedeutet. Deutschland kann auch beim Erlaß asylrechtlicher EU-Gesetze überstimmt werden. Neue Verschlimmbesserungen drohen, insbesondere zwecks „solidarischer“ Verteilung der Migranten auf alle EU-Staaten. Doch Afrika und die muslimischen Länder sind ein Faß ohne Boden.

Letzte nationale rote Linie ist die unabänderliche Verfassungsidentität. Insbesondere das Demokratieprinzip darf „nicht berührt“ werden, wie es im Grundgesetz heißt. Sein Kern liegt in der Volkssouveränität: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Artikel 20). Vom deutschen Volk wohlgemerkt. Daher darf sich die Bundesregierung nicht qua Zuwanderungs- oder Einbürgerungspolitik ein neues, etwa multiethnisches oder mehrheitlich islamisches Volk zusammenstellen. Eine solche Kernschmelze ist sogar dem Parlament verwehrt. Aber dort ist diese Einsicht – wie oben erläutert – ebensowenig vorhanden wie beim Bundesverfassungsgericht.






Alexander Heumann, Jahrgang 1962, ist Fachanwalt für Familienrecht in Düsseldorf. Der Volljurist studierte Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaften in Berlin, Mannheim und Heidelberg. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Religionsfreiheit vor Gericht („Furchtbare Juristen“, JF 17/15).

Foto: Einwanderungskrise als Rechtskrise: Letzte nationale rote Linie ist die unabänderliche Verfassungsidentität