© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

Liebling der Klassik
Zum 250. Todestag des Kunstphilosophen Johann Joachim Winckelmann
Dirk Glaser

Das homosexuelle Auge“, so behauptet Egon Friedell im zweiten Band seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (1928), „sieht vorwiegend Kontur, Raumausfüllung, Umriß, Linienschönheit, Plastik.“ Es sei ohne Empfinden für aufgelöste Form, verschwimmende Valeurs, rein malerische Ausdrücke, in denen weibliche Schönheit künstlerischen Ausdruck finde. Die gesamte, von Winckelmann ausgehende, zu Goethe, Humboldt und Schiller führende klassizistische Ästhetik lasse sich also reduzieren „auf die sexuelle Perversion eines deutschen Provinzantiquars“.

Begründer eines deutschen Reiches griechischer Nation

Nicht wegen dieser überaus zeitgemäßen Homophobie stand Friedell quer zum Hauptstrom der in den 1920ern üppig aufblühenden Winckelmann-Renaissance. Sondern weil er, selbst ein zwar über wilhelminisches „Gips- Griechentum“ spottender, aber doch im Kern treuer Gläubiger der deutschen Bildungsreligion, die im „Dritten Humanismus“ Werner Jaegers wie von Stefan George und seinem Kreis gehegten Hoffnungen nicht teilte. Es schien ihm 150 Jahre später anachronistisch, im Rekurs auf die Kunstphilosophie des am 8. Juni 1768 in Triest durch einen südländischen Messermörder getöteten päpstlichen Konservators noch einen „neuen deutschen Menschheitstypus antiker Prägung“ erziehen zu wollen. 

Um, wie von Berthold Vallentin in seiner vom „Meister“ George inspirierten Winckelmann-Monographie (1931) gefordert, in einer dem „hohen Maß des Menschlichen“ verpflichteten Zukunftsgesellschaft die erniedrigenden Entzweiungen des modernen Massenzeitalters hinter sich lassen.

Johann Joachim Winckelmann, geboren 1717 als Schuhmachersohn in Stendal, war es nicht in die Wiege gelegt, zum „Begründer eines deutschen Reiches griechischer Nation“ und zum „Walter und Mehrer der werdenden und wachsenden geistigen deutschen Hoheit“ im 18. Jahrhundert aufzusteigen (Walther Rehm, 1948). Denn „er war dreißig Jahre alt geworden, ohne irgendeine Gunst des Schicksals genossen zu haben“ (Goethe, 1805). Bis 1748 währte die Leidenszeit, die er zuletzt als Konrektor im altmärkischen Seehausen abwetterte, im permanenten Clinch mit von ihm überforderten Gymnasiasten, als Lieblingsfeind seiner spießbürgerlichen Umgebung. 

Dann gelang der Sprung aus preußischer Dürftigkeit nach Dresden, in „die erste Kunststadt des Nordens“, einer „Kolonie Italiens auf sächsischem Boden“ (Wilhelm Waetzoldt, 1921). Als Helfer des gelehrten Grafen Bünau, der über eine der reichhaltigsten Privatbibliotheken Europas gebot, im Kontakt mit dem strotzenden künstlerischen Leben, das sich in Elbflorenz unter der glänzenden Hofhaltung Augusts III. entfaltete, reifte der manische Leser nun zum führenden deutschen Altertumswissenschaftler. 

Allerdings blieb Winckelmann lange ein die Öffentlichkeit scheuender Antiquar, ein auf blutleer-philiströses Buchwissen beschränkter Kenner im Wartestand. Denn die Dresdner Sammlungen horteten nur wenige Antiken im Original. Es fehlte ihm daher die Anschauung griechischer Kunst. Dieses Manko begann er ab 1755 auszugleichen, als ihm ein Stipendium des sächsischen Hofes die Übersiedlung ins Freilichtmuseum Rom ermöglichte, in die „himmlische Wüstenei“, wo sich „das ganz Altertum in Eins zusammenzieht“ (Wilhelm von Humboldt, 1804).

Als Abschiedsgruß an Dresden hatte er die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke“ hinterlassen. Als seine „Morgenröte und erste duftvolle Jugendblüte“, die die Botschaften des Hauptwerks „Geschichte der Kunst im Altertum“ (1764) im Keim enthalten habe, rühmt es ein Dithyrambus Herders (1777). Und noch für Ludwig Curtius steckt in der schmalen Broschüre „im Kern das ganze System“, verdichtet im Signalsatz: „Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten …“ 

Da sollen keine kleinen Brötchen gebacken werden. Hier kündigt jemand an, aufs Ganze gehen zu wollen. Was die britische Germanistin Eliza M. Butler (JF 27/15) in ihrer Polemik „The Tyranny of Greece over Germany“ (1935) als ersten neuzeitlichen Ausbruch der Leidenschaft der Deutschen für das Absolute attackierte, als ihren fatalen Glauben an die Möglichkeit, Ideale politisch realisieren zu können, der konsequent in der nationalsozialistischen Heilslehre habe münden müssen.

Aufruf zur Umwälzung der spätfeudalen Gesellschaft

Tatsächlich bündelt die Patentformel des Nationalpädagogen Winckelmann, „Edle Einfalt und stille Größe“, ein bescheideneres Programm, das die am griechischen Vorbild ausgerichtete Erziehung zum Menschen proklamiert, um in emanzipatorischer Absicht die vormoderne Standeserziehung zu ersetzen. „Die Kunst der Griechen“, so gibt Christiane Fork diesen natürlich mit Realitäten von Sklavenhalter-Staaten kollidierenden Antike-Traum wieder, „konnte nur deshalb zur Norm werden, weil diese als freie Bürger in einem auf Demokratie gegründeten Staat lebten, in dem die Kunst im Leben des Volkes eine zentrale Rolle spielte. Mit dieser idealistischen Auffassung stellte sich Winckelmann auf die Seite des Bürgertums und seines Strebens nach politischer Macht; der Kunst der Griechen nachzueifern, kam einem Aufruf zur Umwälzung der spätfeudalen Gesellschaft gleich.“ Gleichfalls hochpolitisch wirkten diese Ideale dann mit Humboldts Hochschulreform sehr nachhaltig weiter, da im deutschen Bildungsbürgertum das klassische Menschenbild und seine Werte bis in die 1960er sinnstiftend lebendig blieben.

Die Kultur der Griechen ist für Winckelmann als Kultur schlechthin absoluter Maßstab, ewige Norm, alles andere ist Nicht- oder Noch-Nicht-Kultur. Nicht erst im Zeichen des für Gleichwertigkeit diverser, zur „Kultur“ hypostasierten Lebensstile geführten Kampfes gegen die Lehren „alter weißer Männer“ gilt dieses Konzept jedoch als Provokation, als „ausgrenzend“ und „diskriminierend“. Vor solchem Zeitgeist hat die Fachwissenschaft, exemplarisch in einer „Einführung in die Klassische Archäologie“ (2000), definitiv die weiße Fahne gehißt. Die antike Kultur, so heißt es dort, besäße für die Gegenwart keinen „exemplarischen Rang“ mehr: „Die Weltkriege und Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben das ‘klassische’ Menschenbild und seine Werte gründlich erschüttert.“ Die von Winckelmann geprägten „klassizistischen Wertkategorien und Sehweisen“ seien zwar von Generation zu Generation tradiert worden und hätten nicht wenig „zur Affirmation“ der jeweils bestehenden politischen Verhältnisse, besonders zwischen 1933 und 1945 beigetragen. 

Beendet ist die Rezeptionsgeschichte damit nicht. Wie die Publikationen seit 2000 zeigen, kann nun der homosexuelle „Vater der Kunstbildung“ (Waetzoldt) bestens in einer von „Queer und Gender Studies informierten Forschung“ überleben, wie die über Winckelmann promovierte Publizistin Christina Dongowski frohlockt (FAZ vom 13. Dezember 2017).