© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

Adolfs Resterampe
Eine Übergangsstufe von der Wehrmacht zur Waffen-SS? Die Volksgrenadier-Divisionen der Wehrmacht in der Schlußphase des Zweiten Weltkriegs im Westen
Konrad Faber

Endlich beschäftigten sich deutsche Militärhistoriker wieder mit den gewichtigeren Fragen der Militärgeschichte, anstatt sich mit Gender- und Mentalitätsfragen oder der sozialen Zusammensetzung deutscher Besatzungsdivisionen herumzuschlagen. Zu diesen Problemen gehört neben der jahrzehntelang fast sträflich vernachlässigten Operationsgeschichte des Zweiten Weltkriegs das Studium  organisationsgeschichtlicher Fragen bei der Aufstellung und dem Einsatz von Großverbänden. Zwar gibt es zahlreiche Geschichten deutscher Divisionen, doch stammen diese meist von Nichthistorikern und lassen folglich den Vergleich in der Breite vermissen. Zudem macht sich Quellenmangel ausgerechnet bei den in den letzten zehn Kriegsmonaten aufgestellten deutschen Divisionen bemerkbar. 

In fleißiger Quellenarbeit hat der Aachener Militärhistoriker Karl-Heinz Pröhuber deshalb nicht nur deutsche und amerikanische Archive, sondern auch die im Internet einsehbare Vielzahl deutscher Beutedokumente des Moskauer Zentralarchivs des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation (CAMO) ausgewertet, um die Geschichte aller 29 im Westen 1944/45 eingesetzten „Volksgrenadier-Divisionen“ zu schreiben. Seinen diesbezüglichen Darlegungen stellt Pröhuber eine umfassende Einleitung bezüglich der Verwertung personeller Ressourcen durch die Wehrmacht voran. 

Ersatz für zerschlagene Divisionen der Wehrmacht

Bereits 1939 waren diese Ressourcen recht begrenzt. Das Dilemma bestand darin, daß jeder in die Wehrmacht einberufene Soldat an seinem Arbeitsplatz in der Heimat, also als Facharbeiter, Beamter oder Angestellter, spürbar fehlte. Auch wenn man durch Einsatz von Frauen und ausländischen Arbeitskräften – „Hilfswilligen“ ebenso wie Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern – hier manches zu kaschieren suchte, die Ausnutzung der männlichen Bevölkerungsressourcen litt bis 1945 immer wieder darunter, daß Verwaltung, Wirtschaft und insbesondere die Rüstungsindustrie nicht der notwendigen Arbeitskräfte beraubt werden durften. 

Eine spürbare Erhöhung der Soldatenzahl wäre dann nämlich sogleich durch einen Mangel an Bewaffnung, Ausrüstung und Munition konterkariert worden. Hierbei verweist Pröhuber nachdrücklich auf den Umstand hin, daß der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 noch viel verheerender als Stalingrad die ohnehin knappen Personalressourcen der Wehrmacht beeinträchtigte. 

Die beschleunigte Aufstellung von sogenannten „Volksgrenadier-Divisionen“ nach dem 20. Juli 1944, welche die Nummern vorher zerschlagener Wehrmachts- bzw. Luftwaffenfelddivisionen trugen, sollte 1944/45 dem Mangel an deutschen Großverbänden abhelfen und zugleich einer im nationalsozialistischen Sinne gehaltenen „Qualitätserhöhung“ der Wehrmacht dienen. 

Als Divisionsstämme dienten die Reste zerschlagener Divisionen, welche mit Luftwaffen- und Marinesoldaten, Volksdeutschen und anderen eifrig zusammengekratzten Personalreserven, etwa aus Polizei- und Feuerwehreinheiten, Schulen und Sonderlehrgängen aufgefüllt wurden. VolksgrenadierDivisionen waren zahlenmäßig etwas kleiner, dafür beweglicher und etwas besser bewaffnet als „gewöhnliche“ Wehrmachtsdivisionen. Bei ihnen war der Anteil an automatischen Handfeuerwaffen und Panzerabwehrmitteln höher, desgleichen verfügten alle Divisionen und ihre Regimenter über hochdekorierte Kommandeure, oftmals mit dem Ritterkreuz oder dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet. 

Die Qualität des Unteroffiziers- und unteren Offizierspersonals war indessen meist schlecht, und selbst bei simplen Dingen wie etwa Stahlhelmen oder Rasierklingen herrschte großer Mangel, ebenso wie beim Treibstoff. Pröhuber läßt in seinem Buch die Vermutung begründet erscheinen, daß Hitler und dem damaligen Befehlshaber des Ersatzheeres Himmler in den „Volks-grenadier-Divisionen“ eine Art von nationalsozialistischem „Volksheer“, womöglich als Übergangsstufe zur Waffen-SS, vorschwebte. 

Doch die heftigen Kämpfe, in welche die Volksgrenadier-Divisionen (VGD) im Westen beginnend mit der Ardennenschlacht verwickelt wurden, ließen deren Kampfkraft und Personalstärke ungemein schnell dahinschmelzen. Diejenigen Divisionen, welche nicht im Ruhrkessel ihr Ende fanden, kapitulierten nach wilden Rückzugsgefechten in Bayern oder in Mitteldeutschland. Deutsche Siege, wie etwa der im Buch kurz beschriebene Kampf um Crailsheim der 553. VGD, blieben eine Ausnahme. 

Für jede VGD hat Pröhuber alle Daten über Aufstellung und Organisation inklusive der Kurzbiographien der Divisionskommandeure erfaßt. Für jede einzelne Division gibt er aktenbasiert und monatsweise die Kampfhandlungen und Verluste an. Es stören eigentlich nur einige vermeidbare Flüchtigkeitsfehler, etwa wenn Admiral Canaris die Abteilung „Fremde Heere Ost“ geleitet haben soll oder angeblich deutsche Truppen 1942 unmittelbar vor Baku standen. Es wäre sehr zu wünschen, wenn sich ein zweiter Band vom gleichen Verfasser auch mit der Geschichte der VGD an der Ostfront 1944/45 befassen würde, wo sich die VGD gegenüber der Roten Armee anscheinend besser als gegenüber den technisch weit überlegenen US-Amerikanern behaupten konnten.  

Karl-Heinz Pröhuber:  Volksgrenadier-Divisionen. Band I. Helios Verlag, Aachen 2018, gebunden, 524 Seiten, Abbildungen, 38 Euro