© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

„Vom Untergang zu glücklichen Tagen“
Er meldete das Attentat auf Hitler, sprach bei Kriegsende die letzte Durchsage des Großdeutschen Rundfunks und berichtete vor 65 Jahren für den RIAS vom Volksaufstand am 17. Juni 1953. Radiomoderator Richard Baier erlebte Tragödie und Triumph der deutschen Geschichte
Moritz Schwarz

Herr Baier, mit den Worten „Der Führer ist tot, es lebe das Reich“ haben Sie am 2. Mai 1945 im Rundfunk das Deutsche Reich abmoderiert. Warum gerade Sie?

Richard Baier: Tja, die Antwort ist denkbar einfach: Ich hatte Dienst. 

Der Krieg dauerte aber noch sechs Tage.

Baier: Stimmt, und der Sender funktionierte noch. Doch wer hätte senden sollen? Nach meinen letzten Worten schalteten wir die Anlage ab, und es hieß: Die Russen kommen, rette sich wer kann! 

Zunächst wollten Sie doch an die Front.

Baier: Na ja, als Schüler waren wir alle vom Krieg begeistert und hatten ganz schön „Halsschmerzen“ – sprich, träumten davon, mit dem Ritterkreuz dekoriert zu werden, das der Ausgezeichnete um den Hals trug. Aber dann kam der 3. Oktober 1943. Ich war Flakhelfer in Kassel und tauschte den Dienst mit einem Freund. Da wurde unsere Stellung getroffen, und auf einen Schlag waren 18 Kameraden tot, darunter mein Freund Günther! Bis heute erinnere ich mich an seine offenen Augen und seinen aufgerissenen Mund und wie mir übel wurde, und bis heute kommen mir die Tränen. Unser Batteriechef war ein guter Offizier, der mir half, das zu verkraften. Ich kann nur sagen, wer heute für Krieg ist, der weiß entweder nicht, wovon er redet oder „hat was an der Waffel“! Ich bin kein Merkel-Gegner, aber daß wir unsere Soldaten nach Afghanistan oder Mali schicken, nehme ich ihr übel. Jedenfalls verstehen Sie nun, warum ich froh war, als ich dank meines Vaters, der als Kapellmeister Beziehungen zum Rundfunk hatte, an einem Vorsprechen in Berlin teilnehmen durfte.     

Wieso setzten ausgerechnet Sie sich unter den zwanzig Bewerbern durch? 

Baier: Das müßten Sie Elmar Bantz fragen, damals Chefsprecher des Großdeutschen Rundfunks. Jedenfalls sollte ich Martin Jente ersetzen. Kennen Sie den noch? Der war später zum Beispiel der Fernseh-Butler von Hans-Joachim Kuhlenkampff. Jedenfalls hatte Goebbels etwas gegen seine Aussprache beim Verlesen der Wehrmachtsberichte, so daß ich, nachdem ich mich als Sportmoderator bewährt hatte, das übertragen bekam. Der Bericht wurde täglich von 15 bis 16 Uhr ausgestrahlt und war die meistgehörte Sendung im Reich! Allerdings war das auch eine seelische Belastung, denn wir verkündeten den Leuten ja täglich schlechte Nachrichten. Am schlimmsten war es, die Luftlage zu verlesen. Wenn ich verkünden mußte: „Bomber im Anflug auf ...“, wußte ich um die entsetzliche Angst der Menschen dort und daß ich ihnen nun Verwüstung, Horror und Tod voraussagte. 

In diesem Zusammenhang vermeldeten Sie schließlich auch das Attentat auf Hitler?

Baier: Nein. Ich hatte am 20. Juli 1944 die erste Schicht bis 12 Uhr. Doch komischerweise tauchte mein Kollege nicht auf, und es gab die Regel, dann weiter zu moderieren. Um 12.32 Uhr wurde mir eine Meldung gereicht, die mich fast sprachlos machte, aber ich verlaß: „Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffattentat verübt.“ Dann wurden die Verletzten genannt und die Verletzungen des Führers und daß er aber die Arbeit schon wieder aufgenommen und den Duce empfangen habe. Später sprach Hitler selbst. Er tat das über den Reichssender Königsberg, woraus wir schlossen, daß sein Hauptquartier in der Gegend sein mußte. Denn von der sogenannten Wolfschanze bei Rastenburg wußte man damals nichts. Hinterher erfuhr ich, daß die Leute Stauffenbergs versucht hatten, auch das Funkhaus besetzen zu lassen – was aber nicht klappte, weshalb ich auch nichts davon mitbekam. Jedenfalls war der Kollege, der hätte übernehmen sollen und dann statt meiner die Nachricht verlesen hätte, in den Straßensperren hängengeblieben, die im Zuge des 20. Juli errichtet wurden. 

Was dachten Sie über das Attentat?

Baier: Ich war fassungslos, wir alle waren fassungslos! Mein Gott, waren die alle verrückt geworden? Stellen Sie sich vor, wir hätten eine schwere Krise und es gäbe einen Anschlag auf Merkel! Es geht nicht um für oder gegen, sondern darum, daß man Angst hatte, die Lage gerate außer Kontrolle und das Chaos bräche aus, wenn es die Führung trifft.

Hans-Christoph Blumenbergs halbdokumentarischer ZDF-Film „Die letze Schlacht“ von 2005 schildert dieses Chaos. Sie verkörpert darin der Schauspieler Marek Harloff. Die entsprechende Szene im Berliner Haus des Rundfunks kurz vor Kriegsende wirkt wie ein surreales Carpe Diem und geht auf Ihre Schilderung zurück.    

Baier: Elmar Bantz kam zu mir und meinte, das müsse er mir zeigen, da tobe das pure Leben im Lichthof des Hauses! Aber ich sah den Untergang. Ausschweifungen und Zügellosigkeiten aller Art. Dabei leider auch eine von mir vergötterte Kollegin, die enthemmt am Halse eines jungen Mannes hing, andere waren bereits ausgezogen ... Tja, die Leute wollten noch einmal leben vor dem Untergang. Aber auf mich hat das alles ganz furchtbar gewirkt, und ich kehrte zurück an meinen Platz im Sendebunker. 

Die Berliner nannten Sie damals „die Stimme des Untergangs“.

Baier: Weil ich ihnen eine Schreckensnachricht nach der anderen verkünden mußte. Berlin war inzwischen „die Stadt der Warenhäuser“, wie ein Kollege bitter bemerkte: „Da waren mal Häuser ... und da waren mal Häuser.“ Aus Steglitz wurde „Stehtnix“, aus Lichterfelde „Trichterfelde“ und aus Lichterfelde-Ost „Lichterlohe-Ost“ etc. Am Anfang, so erinnerte er mich, hätte ich im Wehrmachtsbericht noch über Länder und Meere gesprochen, dann über Städte und Flüsse – nun über Straßen und Viertel. „Und du wirst sehen, mein schmaler Bubi“, so war mein Spitzname, „am Ende sprichst du über Häuser und Etagen.“ 

Wie kam es, daß schließlich Sie das Dritte Reich abmoderierten?

Baier: Am Ende kam der Sendeleiter zu mir: „Ein Glück, daß Sie noch da sind, Bubi! Denn der Großdeutsche Rundfunk muß ordentlich abgesagt werden!“ Als ich seine Meldung las, war ich zum zweitenmal seit dem 20. Juli sprachlos! Doch ich faßte mich, und schließlich sprach ich am 2. Mai 1945 um 1.32 Uhr in der Nacht die letzte Berliner Rundfunkmeldung des Deutschen Reiches: „Damit beendet der Großdeutsche Rundfunk seine Sendefolgen. Wir grüßen alle Deutschen und gedenken noch einmal des heroischen deutschen Soldatentums, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. – Der Führer ist tot, es lebe das Reich!“ Dann Stille ... kein Heil Hitler, keine Hymne ... nichts. Nur Stille. 

Und Sie? 

Baier: Für uns war es nicht zu Ende, das Schlimmste kam noch. Uns blieb nichts, als zu versuchen, auszubrechen. Mein Kollege kam dabei ums Leben, und ich sah grauenvolle Bilder, gefallene Soldaten, tote Zivilisten, zerplatzte Köpfe, vergewaltigte Frauen und brutal ermordete Männer, die sie hatten schützen wollen.  

Acht Jahre später erlebten Sie erneut Geschichte hautnah, als Sie – fast auf den Tag heute vor 65 Jahren – für den RIAS („Rundfunk im amerikanischen Sektor“) vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin berichteten. Warum gerade Sie? 

Baier: Weil sich keiner vom RIAS dorthin traute. Ich aber hatte da ein Zimmer. 

Sie haben für den RIAS gearbeitet und in Ost-Berlin gewohnt – das war möglich?

Baier: Natürlich nicht. Offiziell wohnte ich im Westen, hatte aber heimlich ein Zimmer in der Luisenstraße, damit ich als Reporter schnell in Ost-Berlin vor Ort sein konnte. Das zahlte sich aus, als ich am 16. Juni 1953 Gerüchte über eine Demonstration streikender Arbeiter vor dem „Haus der Ministerien“ der DDR hörte – dem ehemaligen Reichsluftfahrt- und heutigen Bundesfinanzministerium, Ecke Leipziger- und Wilhelmstraße.

Was war der Grund für den Streik?

Baier: Die SED ließ in Ost-Berlin mit der Stalinallee – heute Karl-Marx-Allee – eine Prachtstraße im historisierenden Stil der Stalinära bauen, um Größe und Macht des Sozialismus zu demonstrieren. Aber die Mittel waren knapp, und die sogenannte „Norm“ der Arbeiter – also ihr tägliches Soll – wurde erhöht, ohne daß der Lohn stieg. Also legten sie die Arbeit nieder und formierten einen Protestzug zum Haus der Ministerien im ehemaligen Regierungsviertel, wo diverse DDR-Fachministerien der Wirtschaft untergebracht waren. Also die Büros jener, die für Fragen wie Normen und Löhne in einer Planwirtschaft zuständig waren. Unter ihnen übrigens mein späterer Freund Fritz Schenk – später Co-Moderator von Gerhard Löwenthals berühmt-„berüchtigtem“ „ZDF-Magazin“. 

Was haben Sie beobachtet?

Baier: Die Arbeiter-Demonstration vom 16. Juni löste sich schließlich von alleine auf, aber man wollte anderntags weitermachen. Daraus entwickelte sich dann der Aufstand vom 17. Juni, der die SED für einen Moment zittern ließ. 

Hört man Ihren RIAS-Bericht von damals, klingt der allerdings erstaunlich ruhig. 

Baier: Ich wollte berichten und nicht etwa durch eine emotionalisierte Reportage die Atmosphäre noch anheizen. Und zunächst war auch alles relativ ruhig. Immer mehr Menschen sammelten sich. 

Historische Fotos zeigen Feuer und Rauch. 

Baier: Das waren zum Teil Trittbrettfahrer, die die Gunst der Stunde zum Randalieren nutzten. Am Potsdamer Platz brannte in der Tat das Columbiahaus, das ich aber nicht einsehen konnte, und deshalb auch nicht weiß, wer es angezündet hat, weil ich mich ja in der Wilhelmstraße befand. Dort näherten sich dann sowjetische Panzer. Allerdings fuhren sie langsam heran und senkten dann sogar ihre Kanonen – traten also keinesweges betont bedrohlich auf. 

Das sieht auf Fotos anders aus. 

Baier: Ich weiß, etwa auf dem berühmten Bild, auf dem Männer Steine gegen Panzer schleudern. Doch was ich beobachtete, war weniger dramatisch. 

Aber Sie sahen doch, daß sich ein Aufstand gegen die SED, die Besatzer-Ordnung und für die Wiedervereinigung entwickelte. Das kann Sie doch nicht kaltgelassen haben? 

Baier: An sich haben Sie recht, aber ganz ehrlich, mir war vollkommen klar, das würde nicht klappen! Wiedervereinigung? Völlig undenkbar! Denn weder Sowjets noch Westalliierte hätten ihren Teil Deutschlands aufgegeben. So kam es dann ja auch, schließlich zerstreuten die Panzer die Menge, der Aufstand war gescheitert. Und so war es überall in der DDR, wo der „17. Juni“ stattgefunden hat. Und die Westalliierten waren trotz gespielter Empörung in Wahrheit doch froh darüber – da sie kein Interesse an einer Eskalation hatten. So unterbrach zum Beispiel AFN, der Radiosender der US-Streitkräfte in Deutschland, nicht einmal sein Programm und berichtete in den Nachrichten auch nur sehr allgemein über den 17. Juni. 

Die Amerikaner haben im Grunde also den 17. Juni unterminiert?

Baier: Ich weiß, das paßt nicht zu dem, was offiziell gesagt wurde. Und es gab etliche RIAS-Leute, die von den Amerikanern enttäuscht waren. Aber so war es. 

1955 wurden Sie für Ihre Berichterstattung über den 17. Juni verhaftet. 

Baier: Mein Zimmer in Ost-Berlin blieb leider nicht so geheim wie erhofft, und eines Tages zogen mich zwei Männer in ein Auto. Gegenwehr führte zu Schlägen, und die gab es auch im Stasi-Verhör. Auf die Anklagepunkte mit Bezug auf den 17. Juni wurde am Ende aber doch verzichtet, weil man die Öffentlichkeit nicht an den Aufstand erinnern wollte. Nachdem ich unter anderem einige Zeit ins sogenannte U-Boot gesteckt worden war, eine Spezialzelle im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, in die man Leute brachte, deren Willen gebrochen werden sollte, wurde ich angeklagt. Dieser sogenannte RIAS-Prozeß war rechtsstaatlich ein einziger Witz, doch ich wurde zu 13 Jahren verurteilt – und hatte damit noch „Glück“, denn ein Mitangeklagter wurde hingerichtet. Nach sechs Jahren kam ich überaschend durch eine Amnestie frei, erhielt allerdings Berufsverbot und arbeitete schließlich als Parkführer in Potsdam-Sanssouci. 1982 wurde ich erneut inhaftiert – zehn Monate, weil ich die Sprengung der Potsdamer Garnisonkirche einen Kulturfrevel genannt hatte. Als dann 1989 endlich die Mauer fiel und 1990 Deutschland wiedervereinigt wurde, konnte ich es nach allem, was ich erlebt hatte, kaum fassen – das waren glückliche Tage!  

Haben Sie sich bei RIAS und Großdeutschem Rundfunk eigentlich als Journalist oder als Propagandist gesehen?

Baier: Als Journalist natürlich.

Aber Ihren Sender kontrollierten die USA, zuvor das Reichspropagandaministerium. 

Baier: Das stimmt, aber seien Sie bitte nicht so blauäugig zu glauben, daß unsere Medien heute nicht auch eine propagandistische Funktion haben. Sie entscheiden, welche Themen „wichtig“ sind, über welche also gesprochen wird und wie. Sie lenken die Debatten, und sie entscheiden, wer zu Wort kommen darf und wer nicht, sowie welche Argumente als gültig gelten und welche als indiskutabel. Wer etwas anderes glaubt, der ist naiv. 






Richard Baier, der Moderator und Journalist war von 1943 bis 1945 beim Großdeutschen Rundfunk und von 1952 bis zu seiner Verhaftung durch die Stasi 1955 beim RIAS-Berlin tätig. Geboren 1926 in Kassel, studierte er Zeitungs- und Sportwissenschaft sowie Geschichte und Philosophie, schrieb für die Hessischen Neuesten Nachrichten und war Chefredakteur der Zeitschrift Der illustrierte Boxring. Zur Leipziger Buchmesse 2019 erscheint seine Autobiographie „An jedem Ende stand ein Anfang“.

Foto: Der zerstörte Reichstag im Mai 1945, Volksauflauf auf dem Platz vor dem „Haus der Ministerien“ in Ost-Berlin am 17. Juni 1953: „Als dann endlich die Mauer fiel und Deutschland wiedervereinigt wurde, konnte ich es – nach allem, was ich zuvor erlebt hatte – kaum fassen“

 

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