© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Kritisch, aber nie verletzend
Liedermacher: Der Berliner Sänger Reinhard Mey hat ein neues Live-Album vorgelegt
Ronald Berthold

Reinhard Meys Konzerte gewinnen ihren Charme nicht nur aus den Liedern. Sie leben auch von dem, was der Liedermacher zwischendurch erzählt. Bei einer dieser Ansagen fragt sich der Zuhörer im nachhinein, ob der inzwischen 75jährige über prophetische Gaben verfügt. Beim Plaudern über die Hintergründe zu seinem Lied „Mairegen“ kommt er auf Hoffmann von Fallersleben zu sprechen, der vor über 200 Jahren ein Kinderlied geschrieben habe, in dem es heiße, „Mairegen macht, daß man größer wird“. Und dann setzt Reinhard Mey seine Pointe: „Gleich nachdem er dieses Lied geschrieben hat, hat er seinen absoluten Alltime-Hammer-Hit geschrieben: Einigkeit und Recht und Freiheit. Und das kennt jeder; das können wir alle auswendig. Bis auf ein paar Fußballer können wir das alle mitsingen.“ Großes Gelächter im Saal.

Die Aufnahme auf der gerade veröffentlichten Doppel-CD stammt aus dem vergangenen Winter. Der Besuch der Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan bei „ihrem“ Präsidenten Erdogan lag da noch ein gutes halbes Jahr in der Zukunft. Erst danach wurde auch öffentlich heftig darüber diskutiert, daß die beiden bei der deutschen Nationalhymne stets die Lippen geschlossen halten. Bis dato war das nur ein Thema an Stammtischen – und beim Reinhard-Mey-Konzert. Insofern hat das neue Mey-Album, das der Künstler im Anschluß an seine letzte Tournee herausgebracht hat, gleich zu Beginn eine ungeahnte Aktualität.

Alle drei Jahre geht er allein auf Tour

24 Lieder bekommt der Freund deutscher Liedermacherei auf dem Album „Mr. Lee – Live“ zu hören. Wie immer hat der Sänger eine Mischung mit Beiträgen seiner jüngsten CD, die ebenfalls „Mr. Lee“ hieß und vor zwei Jahren erschien, sowie älteren Titeln zusammengestellt. Darunter sind diesmal auch die Klassiker „Über den Wolken“, „Zeugnistag“ und „Gute Nacht, Freunde“. 

Und wie immer hat der „Spielmann“, wie er sich selbst nennt, ein bisher nicht veröffentlichtes Lied geschrieben. Waren es in den Jahren zuvor Schenkelklopfer, mit denen der Liedermacher seinen feinen Humor und lässige Selbstironie bewies, kann man das von „Und in der Uckermark“ nur bedingt sagen. Mey stellt darin (wahrscheinlich fiktive) Mallorca-Ferien einem Urlaub in dem märkischen Landstrich gegenüber. Daher ist diese Liebeserklärung an die Gegend, in die sich auch der Schriftsteller Botho Strauß zurückgezogen hat, mehr ein Heimatlied – auch wenn Reinhard Mey das Wort gar nicht gern hören mag.

In seiner Anmoderation sagt er: „Und es macht nichts, daß Herr Professor Sauer und seine Frau dort auch wohnen. Man kommt klar, man begegnet sich eigentlich gar nicht.“ Mit dieser Spitze gegen die Bundeskanzlerin heimst er ebenfalls den Applaus seines Publikums ein. Mey ist in seiner Kritik nie verletzend, sondern immer elegant und fast freundlich. Insofern können sich hier die Merkel-Gegner für einen Moment freuen, ohne daß die Merkel-Fans beleidigt sein müssen.

Alle drei Jahre geht der bekannteste deutsche Liedermacher auf Tour. Kein Orchester, keine Band begleitet ihn. Ganz allein mit seiner Gitarre tritt er vor das Publikum. Wer im Herbst und Winter 2017/18 seine Konzerte verpaßt hat, ist mit dem Album sehr gut bedient. Es ist mehr als ein bißchen so, als wäre man nachträglich dabei. Die Platte ist nichts fürs Nebenbeihören. Wer sie genießen will, sollte sich Zeit nehmen – insgesamt mehr als zweieinhalb Stunden. Denn so lange unterhält der Künstler sein Publikum.

Viele Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend prägen das Album – auch das ist typisch für Mey. Herausragend das Lied über seinen Lateinlehrer „Dr. Brand“, den er und seine Mitschüler, „übelste Gesellen“, schlimm gemobbt haben, obwohl dieser immer freundlich und hilfsbereit war, „so eine sanfte, verletzliche Kreatur“. 60 Jahre später habe er erfahren, so singt er, daß der Lehrer bis zum Kriegsende KZ-Häftling war: „Wie wünscht ich heute, daß ich Worte der Versöhnung fände. / Es tut mir so leid, ich bin mit meinem Latein am Ende.“

All diese Geschichten spielen in Berlin, die Stadt, aus der er kommt, die er liebt, aber irgendwie auch die Stirn darüber runzelt. Das wissen seine Zuhörer nicht erst seit diesem Album. Sein Stück „Heimweh nach Berlin“ moderiert er mit „unliebsamen“ Sprüchen großer Dichter, liebenswürdig vorgetragen, an. Johann Wolfgang von Goethe „hat über meine Heimatstadt Berlin gesagt, es lebe dort ein so verwegener Menschenschlag, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht. Und daß man mitunter etwas grob sein und Haare auf den Zähnen haben muß, um sich über Wasser zu halten.“

Zwiegespaltene Sympathiebezeugung

Theodor Fontane „haut in dieselbe Kerbe, indem er sagt, wenn man nach Berlin kommt, ist es schnell vorbei mit Schick und Eleganz“. Das sei zwar „nicht ganz falsch, aber er hat alles wieder rausgehauen mit dem Spruch, vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner. Und ich füge hinzu, alle Hunde und alle Schlaglöcher auf Hauptverkehrsstraßen und alle kaputten Schultoiletten auch – alles Berliner.“ Ähnlich ambivalent wie die einführenden Worte ist das Lied; eine sehr zwiegespaltene Sympathiebezeugung, in der der „Kampfradler“ genauso sein Fett wegbekommt wie jene Menschen, „die mir gegen meinen Willen die Windschutzscheibe“ putzen. Er habe Heimweh „nach dem Busfahrer, der mir genau vor dem letzten Schritt / die Türe vor der Nase zuknallt und aufs Gaspedal tritt“.

Doch in der letzten Strophe wendet Mey, der Optimist, alles zum Guten. Da kommt dann der „Busfahrer, der mich rennen sieht und freundlich lacht, / nochmal anhält und extra für mich die Tür aufmacht“. Ja, genau so ist Berlin: Nie nur gut und nie nur schlecht. Mey, der große Sohn der Stadt, gehört zu den angenehmen Seiten, die die Metropole hervorgebracht hat.

Reinhard Mey Mr. Lee – Live Doppel-CD  Electrola (Universal Music) 2018 www.reinhard-mey.de