© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Über den Bedeutungsverlust des Zentralrats der Juden
In der Defensive
Thorsten Hinz

Das Luther-Jahr ist kaum vorbei, da interveniert der Präsident des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst, gegen die Einführung des Reformations- als gesetzlichen Feiertag in seinem Bundesland mit der Begründung: „Man muß doch einen bekennenden Antisemiten und Haßprediger nicht mit einem Feiertag ehren.“ Natürlich geht es Fürst um etwas ganz anderes als den Reformator: Juden in Deutschland fühlen sich bedroht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie werden aber nicht von Luthers bösem Geist heimgesucht, sondern von Zuwanderern aus dem arabisch-muslimischen Raum.

Fürsts Mimikry steht stellvertretend für das Agieren der jüdischen Verbandsfunktionäre einschließlich des Zentralrats der Juden in Deutschland (ZdJ). Statt das Problem und seine Urheber beim Namen zu nennen, versuchen sie über Bande zu spielen und sich in den offiziellen Antisemitismus-Diskurs einzuklinken, der die importierte Juden- und Israelfeindschaft in einem allgemeinen Antisemitismusproblem der deutschen Gesellschaft auflöst. Der Zentralrat unterwirft sich dieser Lüge, die ihrerseits schon eine Unterwerfungsgeste einschließt. Der politisch-mediale Komplex will eine Debatte über die Folgen seiner Migrationspolitik unbedingt vermeiden, weil sie ihn delegitimieren könnte. Darüber hinaus fürchtet er, durch eine eindeutige Stellungnahme judenfeindliche Moslems in ihrer konfrontativen Haltung zu bestärken und ihr Gewaltpotential zu stimulieren.

Die Hinnahme des falschen Diskurses durch den ZdJ steht im scharfen Kontrast zu dem Selbstbewußtsein, mit dem er noch vor wenigen Jahren öffentliche Debatten auslöste oder dominierte und dabei auch höchste Autoritäten und Staatsorgane nicht schonte. Persönlichkeiten wie der Schriftsteller Martin Walser oder der Kölner Kardinal Meisner mußten sich die Bezeichnung „geistige Brandstifter“ gefallen lassen. Sogar Papst Johannes Paul II. und sein Nachfolger wurden Zielscheibe harscher Kritik. An Benedikt XVI. erging der Vorwurf, den Antisemitismus „salonfähig“ zu machen.

2007 forderte der Zentralrat den Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, weil dieser auf der Trauerfeier für seinen Amtsvorgänger Hans Filbinger, der im Zweiten Weltkrieg als Marinerichter tätig gewesen war, den Toten fälschlich dem Widerstand zugerechnet hatte. Als der CDU-Politiker um ein klärendes Gespräch nachsuchte, wurde er nach einer Wartefrist beschieden: „Ein Gespräch mit der Führung des Zentralrats kann jetzt stattfinden, aber nicht mit dem Ziel der Absolution.“ Man erwarte von Oettinger, daß er sich „künftig aktiv an der Bekämpfung von Rechtsextremismus und Revisionismus beteiligt“ („Der Wächterrat“, JUNGE FREIHEIT, 20/07).

Man muß sich das Machtbewußtsein, das hier zum Ausdruck kam, vergegenwärtigen, um den Prestige- und Autoritätsverlust, den Schwund von Rang und Einfluß zu ermessen, den der Zentralrat innerhalb kurzer Zeit erlitten hat. Der aktuelle Präsident des ZdJ, Josef Schuster, ist weithin ein Unbekannter. Sein Vorgänger Ignatz Bubis, der von 1992 bis 1999 amtierte, zählte hingegen zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Bundesrepublik. Seine Nachfolger Paul Spiegel und Charlotte Knobloch konnten von seiner Popularität noch zehren. Unter Dieter Graumann schließlich, der 2009 ins Amt kam, nahm die öffentliche Wahrnehmung des ZdJ deutlich ab. Heute wird der Titel „Zentralrat“ gleichberechtigt mit der Konkurrenzorganisation der Muslime assoziiert, die diese Bezeichnung bei ihrer Gründung 1994 in kühler Berechnung übernahm.

Man muß sich das Machtbewußtsein, das im Fall Oettinger zum Ausdruck kam, vergegenwärtigen, um den Prestige- und Autoritätsverlust, den Schwund von Rang und Einfluß zu ermessen, den der Zentralrat innerhalb kurzer Zeit erlitten hat.

Der Bedeutungsverlust zeigt sich noch indirekt, im Rückgang der Publizität, der öffentlichen Zuwendung und im unterlassenen Handeln von Staat und Gesellschaft. Deutlich zeigte sich das während des Gazakonfliktes 2014, als arabische Demonstranten durch deutsche Innenstädte marschierten, „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ riefen, ohne von der Polizei behelligt zu werden. Im Dezember 2017 riefen Demonstranten in Berlin am Brandenburger Tor „Kindermörder Israel“ und „Tod Israel“ und verbrannten israelische Flaggen. Das geschah in Sicht- und Rufweite des Holocaust-Mahnmals, das erklärtermaßen die spirituelle Mitte des Staates, den bundesdeutschen Gründungsmythos repräsentieren soll.

Trotzdem dauerte es geraume Zeit, ehe der Politik- und Medienbetrieb, der sonst in Minutenschnelle mit Schuldzuweisungen und der Forderung nach Verstärkung des Verfolgungsdrucks „gegen Rechts“ zur Hand ist, überhaupt reagierte. Kein Prominenter hatte Lust, „Gesicht zu zeigen“, keine Kirchenglocken läuteten solidarisch, und auch die Antifa war zu keinem Kräftemessen mit den Frevlern bereit.

Die Zurückhaltung rührte zum einen aus der Furcht vor dem physischen Potential der Protestierer her, das mit der demographischen Entwicklung zunimmt. Neonazis sind dagegen ein auch physisch überschaubares Problem. Sie wären umstandslos eingesammelt, erkennungsdienstlich behandelt und abgeurteilt worden. Von arabischen Akteuren weiß die Polizei aus ihrer alltäglichen Arbeit, daß sie in der Lage sind, blitzschnell Unterstützung in mehrfacher Stärke herbeizutelefonieren und die Situation vor Ort eskalieren zu lassen.

Der zweite Grund ist das Dilemma, in das die Polizei durch Politik und Rechtsprechung gestellt ist. Laut Verfassungsgericht versteht die Bundesrepublik sich als „Gegenentwurf“ zum NS-System, was bedeutet, daß die „Lehren aus der Geschichte“ zu handlungsleitenden Staatsideen werden. Zu diesen „Lehren“ zählen als Konsequenz aus der Exklusions- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten der besondere Respekt für den jüdischen Bevölkerungsteil und die freizügige Asyl- und Migrationspolitik.

Daraus ergibt sich eine für die Polizei unauflösbare Paradoxie, weil diese werte­basierte Politik massenhaft Menschen nach Deutschland führt, die eben diesen Wertekanon und insbesondere die NS-geschichtlich begründete Sonderstellung der Juden ablehnen und diese Meinung auch frei zum Ausdruck bringen. Vor die Notwendigkeit einer Entscheidung gestellt, erweist der Staat sich als schwach und als unfähig, Juden wie auch Nichtjuden vor den Zudringlichkeiten aggressiver Migranten zu schützen. Der jüdische Zentralrat verläßt sich deshalb nicht mehr ausschließlich auf die Autorität des Staates und wendet sich mit Bitten und Appellen an die muslimischen Verbände, mäßigend auf judenfeindliche und gewaltaffine Glaubensgenossen einzuwirken.

Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner konstatierte 1991, das gute Verhältnis zu Israel und den Juden hätte „eine politische Währungseinheit dar(gestellt), mittels derer sich die Bonner Republik Souveränitätszuwachs und Vertrauen im Westen einhandelte“. Diner hielt es für möglich, daß diese Währung mit der Wiedervereinigung an Wert verlieren und Deutschland sich ihrer „entledigen“ würde.

Die Befürchtung war unbegründet, denn es stand nie ausschließlich – und je länger, desto weniger – eine politische Berechnung dahinter. Seit den 1960er Jahren begann sich die zivilreligiöse Holocaust-Deutung herauszubilden, die im Ergebnis des Historikerstreits 1986/87 zur geschichtspolitischen Doktrin wurde. Der durch die Wiedervereinigung verunsicherten bundesdeutschen Gesellschaft erschien sie geeignet, ihr geistig-moralischen Halt und Orientierung zu geben. Mit der Errichtung des Holocaust-Mahnmals wurde das NS-fixierte Selbstverständnis zementiert.

Parallel dazu wuchs der Zentralrat in die Funktion einer „moralischen Instanz“ und – da Politik in Deutschland vornehmlich unter moralischem Gesichtspunkt betrachtet wird – auch innenpolitischen Interventionsmacht hinein.

Die Vergangenheitsbewältigung, in deren Kontext der ZdJ eine Exklusivstellung einnahm, hat keine couragierten und selbstbewußten Bürger hervorgebracht, die fähig wären, einer unheilvollen Entwicklung in die Speichen 

zu greifen.

Diese Rolle mußte ihn intellektuell und moralisch überfordern, und tatsächlich gerieten seine Interventionen häufig zum Selbstzweck. Den vorsichtigen Versuchen, endlich auch die unversorgt gebliebenen Wunden zu thematisieren, welche die Geschichte den Deutschen gerissen hatte, und so zu ihrer Heilung beizutragen – etwa im Fall des von Erika Steinbach initiierten Zentrums gegen Vertreibungen –, wurde regelmäßig ein revisionistischer Hintersinn unterstellt. Diese Einsprüche hatten zwei hauptsächliche Effekte: Erstens wurde die ohnehin überhitzte Gesinnungsethik weiter angeheizt und damit die politische Vernunft nachhaltig blockiert. Zweitens nutzten die Interventionen sich ab und und tauchten die Position des ZdJ in das Licht der Beliebigkeit.

Martin Walser hatte 1998 in seiner legendären Paulskirchen-Rede gewarnt: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets [...].“ Eben diese maßvolle Mahnung führte zum Brandstifter-Vorwurf.

Als besonders kontraproduktiv erweist sich im Rückblick die Dauerkritik an der vermeintlichen Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Der ZdJ vertrat einen Kurs, den Israel Singer, damals Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, am 30. Januar 2005 – dem Jahrestag der NS-Machtergreifung – in der Welt am Sonntag unter der Überschrift „Europa muß multikulturell sein“ wie folgt umriß: Nicht das Wohlgefühl der Mehrheitsgesellschaft, sondern das der Minderheiten sei „der Lackmustest der Demokratie“ und Deutschland in dieser Frage der „Testfall für Westeuropa“. Die Juden sollten auf keinen Fall mit der Islamfeindschaft der „Rassisten“ in Europa gemeinsame Sache machen, sondern „den Dialog mit Christen und Muslimen ... verstärken“. Auch sei „der ‘neue Antisemitismus’ der muslimischen Einwanderer (...) eine Randerscheinung“ und durch die überzogene Israel-Kritik vieler europäischer Medien induziert.

Singers Irrtum ist erklärbar durch die Erfahrung aus den dreißiger und vierziger Jahren, daß homogene Staatsvölker die Sicherheit der jüdischen Minderheit nicht gewährleisteten. Der daraus gezogene Umkehrschluß aber, daß eine fragmentierte Gesellschaft den Juden mehr Sicherheit verbürge, war fatal. Nicht in Betracht gezogen wurde die Möglichkeit, daß eine eingewanderte, selbstbewußte Minderheit in der Lage sein würde, die in Schuldgefühlen befangene Mehrheitsbevölkerung und mit ihr die jüdische Minderheit in die Defensive zu drängen.

„Wo bleibt die Zivilgesellschaft?“, hatte ZdJ-Präsident Dieter Graumann 2014 gefragt. Die Antwort lautet: Sie ist immer auf der sicheren Seite! Die Vergangenheitsbewältigung, in deren Kontext der ZdJ eine Exklusivstellung einnahm, hat keine couragierten und selbstbewußten Bürger hervorgebracht, die fähig wären, einer unheilvollen Entwicklung in die Speichen zu greifen. Der auf einen Negativ-Gründungsmythos fixierte Staat, der das kollektive Selbst auf untilgbare historische Schuld festlegt, hat den Durchmarsch unsicherer, opportunistischer, überzeugungsfreier Staatsmenschen gefördert. In dem Moment, wo das Bekenntnis zum deutsch-jüdischen Sonderverhältnis, das früher so leicht von den Lippen gegangen ist, keine Prämien mehr abwirft, sondern Konsequenzen erfordert und Risiken nach sich zieht, wenden sie sich ab und den nunmehr Stärkeren zu.

Der Zentralrat steht ratlos vor dieser Konstellation, die er blind mit herbeigeführt hat. Jetzt, wo er alle Gründe der Welt hätte, im Interesse der jüdischen Gemeindemitglieder vom Staat entschiedene Maßnahmen zu fordern, verlegen seine Funktionäre sich aufs Bitten und auf Mimikry.

Doch vielleicht reichen die Gründe für die Entfremdung noch tiefer. Ein kluger Kopf bemerkte neulich, die Lieblingsjuden der Deutschen seien Herr und Frau Stolperstein und ihre Kinder. Soll heißen, sie haben sie nur als Projektion und als Fetisch jener Neurose interessiert, die sie jetzt in die Arme des Islam führt. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Israel und die deutsche Staatsräson („Mit Herz und Verstand“, JF 7/18).

Foto: Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster: Im Vergleich zu Vorgängern ein weithin Unbekannter