© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Das lebendige Erbe einer deutschen Revolution
Vieles, was 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung geplant war, wurde in späteren Verfassungen verwirklicht
Wilhelm Brauneder

Die Regimentskapelle begann zu spielen, zwischen den griechischen Säulen des Rathauses erschienen der Bürgermeister, Oberst Blänker, Oberstleutnant Stahel, General Sandford. (…) Und dann erschien, bejubelt beim ersten Anblick, die altvertraute schwarz rot goldene Fahne der deutschen Freiheit.“ Dies alles hatte begonnen, als sich in der Turnhalle die deutschen Freiwilligen verschanzten, um den reaktionären Truppen den Weg zum Arsenal zu versperren. Trotz der Namen, trotz Rathaus und Turnhalle finden sich die vorgenannten Schauplätze nicht in Wien oder Berlin. Wir sind auch nicht im Jahr 1848, sondern – im Jahr 1861. Das Rathaus ist jenes von New York, die Turnhalle steht in St. Louis am Mississippi. 

Verwirklicht in Cisleithanien und Norddeutschem Bund

Die US-Historiker Steven Rowan und James Neal Primm dazu: „Im Rückblick erscheinen die Frühlingstage von 1861, die ‘Flitterwochen des Bürgerkriegs’, als die letzte Zeit, in der Männer der deutschen März-Revolution mit Federn auf ihren Hüten in den Kampf ziehen und sich noch einmal als himmelstürmende Knaben – boys storming the heavens – fühlen konnten.“ Etwa eine Million Auswanderer hatten nach 1849 ihre deutsche Heimat verlassen und waren in die Vereinigten Staaten eingewandert – aus verschiedensten Motiven vor allem wegen des Fehlschlags ihrer Ideale. Daher wurde wie von dem 1848er Friedrich Münch für die Einwanderung nach Missouri unter anderem erfolgreich geworben: „Völlige Religions-, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind gesetzlich garantiert, die Befugnis zur Ausübung aller Bürgerrechte wird nach fünfjähriger Probezeit erlangt.“ Weiter schrieb er: „Alle Staatsgewalt beruht auf dem Volke, welches allein berechtigt ist, seine Gesetze zu machen, sie zu ändern, sie vollziehen zu lassen“; „1848“ war hier vollendet.

Mai 1861: Kampf um das Arsenal in St. Louis; Mai 1861: In Österreich tritt wieder eine parlamentarische Versammlung zusammen. Es hatte nun seine boys storming the heavens. Sie stürmten nicht gegen Truppen der Reaktion, sondern traten gegen diese als Parlamentarier auf. Denn es trafen sich hier Abgeordnete wieder, die 1848/49 entweder im österreichischen Reichstag gesessen hatten oder in der Frankfurter Nationalversammlung. 

Dann schlug besonders 1867 die „Zweite Stunde der 1848er“. Sie kam nach dem verlorenen Krieg von 1866 durch den Ausgleich mit Ungarn. Auch dieses erlebte eine späte Genugtuung: Es bekam seine 1848 erkämpfte Verfassung wieder hergestellt. Nun traten allerdings die 1848er auch in Cisleithanien, der österreichischen Häfte des k.u.k.-Reiches, auf den Plan. Entgegen der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses setzten sie einen Verfassungsausschuß ein – und benahmen sich damit haargenau so wie 1848 der österreichische Reichstag und die Frankfurter Nationalversammlung. Ende 1867 kehrte Cisleithanien zur konstitutionellen Monarchie zurück und damit – nahezu – zum Zustand von 1848/49. Allerdings nur nahezu: Denn da war das Parlament, zu dem es keine Wahlen gab, und als es 1873 nur zu einem Kurien- und Zensuswahlrecht kam, blieb als weiteres Ziel die Ausdehnung des Wahlrechts. 

Auch für Deutschland war 1867 ein Verfassungsjahr. Sowohl für den neugegründeten Norddeutschen Bund wie für den Deutschen Zollverein erfolgten, allerdings auf andere Weise und nur punktuell, Rückgriffe auf 1848/49. Ausdrücklich nach dem Muster des Volks-hauses der Reichsverfassung 1849 erhielt der Norddeutsche Bund neben seinem Bundesrat den Reichstag und, auch für die süddeutschen Staaten, der Deutsche Zollverein ein Zollparlament. 

Einen weiteren Anklang an 1848 gab es beim Deutschen Zollverein übrigens insofern, als er gebietsmäßig, freilich sachlich beschränkt auf Wirtschaftsangelegenheiten, die kleindeutsche Lösung verwirklichte. Noch deutlicher erweckte die Reichsgründung von 1870/71 Erinnerungen an 1848/49. Mit 1871 gab es ein Deutsches Reich, einen Deutschen Kaiser, mit dem Reichstag ein Parlament des deutschen Volkes, wie dies alles 1848 vorgesehen beziehungsweise in der Nationalversammlung verwirklicht gewesen war – nunmehr freilich im kleindeutschen Sinn, allerdings erweitert um Elsaß-Lothringen. Vom Standpunkt der Kleindeutschen konnte man Genugtuung darüber empfinden, nun erreicht zu haben, was 1849 nicht gelungen war. 

Dennoch: Deutschlands „Zweites 1848“ von 1867 und 1870 war wesentlich weiter von 1848 entfernt als das „Zweite 1848“ Österreichs von 1867. Kam es nämlich hier zur Wiederherstellung der Verfassung von 1849 mit Ausnahme des Parlaments, so in Deutschland 1867/1870 nur zum Rückgriff auf eine Kammer des Parlaments der Reichsverfassung von 1849 und nicht auch auf das übrige Verfassungswerk, etwa auf die Grundrechte! 

Zwar gab es nun die Traditionsbezeichnungen Deutsches Reich und Deutscher Kaiser, aber als Konstrukte, die mit 1848 nichts gemein hatten. Zwei Personen charakterisieren in Heinrich Manns „Der Untertan“ die 1848er und die 1871er. Für jene sagt der „alte Buck“: „Wir glaubten (das Volk) würde alles das selbst vollbringen, was es jetzt für den Preis der Unfreiheit von seinen Herren entgegennimmt (...) So war in unserem Herzen die deutsche Einheit.“ Sie wäre eine „Gewissenspflicht“, worauf der 1871er Heßling sagt: „Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank, nicht mehr das Volk der Denker und Dichter!“ Daher blieb in Bismarcks Reich ein parlamentarisch regiertes Deutschland mit Grundrechten weiterhin eine Vision aus 1848.

Schließlich wurde 1918 in Österreich wie in Deutschland zu einem „Dritten 1848“. Das neue republikanische Deutschösterreich sah sich ganz in der demokratischen Tradition von 1848 stehend an. Auch die Szene der Staatsgründung war dieselbe: Deutschösterreich wurde am 30. Oktober 1918 im alten Landhaus in Wien aus der Taufe gehoben, von wo 1848 die Revolution ihren Ausgang genommen hatte. Dessen war man sich sehr bewußt: „Was dieses von Unglück heimgesuchte, schwergeprüfte Volk seit den Tagen von 1848 immer begehrt, was ihm die Mächte des Rückschritts ebenso hartnäckig wie kurzsichtig versagt haben, das ist nun inmitten des allgemeinen Zusammenbruches der alten Einrichtungen glücklich errungen.“ 

Auch die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung zu Weimar stand 1919 bewußt in der Tradition von 1848. So leitete Staatssekretär Hugo Preuß die allerersten Beratungen mit jenen Worten ein, mit welchen „einst Heinrich von Gagern die erste verfassunggebende Nationalversammlung des deutschen Volkes in der Paulskirche zu Frankfurt“ begrüßt hatte, und es befand sich unter den verlesenen Schreiben auch einer des Rektors der Universität Graz, der die Nationalversammlung als „neue politische Paulskirche“ bezeichnete. Wie ein roter Faden durchziehen die Ausschuß- und Plenardebatten Hinweise und Berufungen auf 1848/49. Vor allem die neuen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold galten wie selbstverständlich als die Farben von 1848, und zwar als Farben des Fortschritts und der Demokratie. Besonders den Grundrechtsteil sah man in der Tradition von 1848/49 stehend an, hier „leben Goldkörner aus der Paulskirche weiter“. 

Daß die nächste Verfassungsgebung für Deutschland just in die Jahre 1948/49 fiel, hatte allerdings nichts mit einem Hundert-Jahr-Gedenken zu tun, sondern verstand sich aus dem Stand der politischen Entwicklung in den Besatzungszonen des besetzten Nachkriegsdeutschland. Der inhaltliche Einfluß von 1848/49 blieb jetzt begreiflicherweise gering, er war schon von der Reichsverfassung 1919 aufgesogen worden, die nun als primäres deutsches Vorbild diente. 

 Theodor Heuss entpuppte sich als ein „1848er“

In der Verfassungsdiskussion des Parlamentarischen Rates griff die Diskussion dennoch mehrfach auf 1848/49 zurück, vor allem bei den Grundrechten, dann auch hinsichtlich des Föderalismus und, wenngleich nur kurz, hinsichtlich der wiederherzustellenden Farben Schwarz-Rot-Gold. Vor allem der spätere Bundespräsident Theodor Heuss entpuppte sich hiebei als ein „1848er“. Bewußt die 1848er-Tradition sprach die künftige DDR an. Die Zweite Lesung der (Ost-)Berliner Landesverfassung 1948 stand im Zusammenhang mit der Festsitzung der Stadtverordnetenversammlung zum Gedenken an 1848, wo man erinnerte an „1848, das Geburtsjahr der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“. Am 100. Jahrestag der Berliner Märzrevolution trat am 18. März 1948 auf Initiative der SED der 2. Deutsche Volkskongreß zusammen, der das Entstehen der DDR-Verfassung 1949 in die Wege leitete. 

Gut Ding will Weile haben. Das gilt auch für die doch allmählich erreichte Vollendung von „1848“, erst in den Vereinigten Staaten von Amerika, dann in Deutschland und Österreich.






Prof. Dr. Wilhelm Brauneder lehrte Rechtswissenschaften an der Universität Wien und war von 1996 bis 1999 Dritter Präsident des Nationalrats.