© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Das rote Gold der Gotik
Zwei Prachtbände über die Architektur an Oder und Weichsel präsentieren auch das reiche ostdeutsche Kulturerbe im heutigen Polen
Wulf D. Wagner

Wer im Zug von Westen kommend sich der Nogat nähert, erblickt alsbald jene gewaltige Backsteinburg, die im Mittelalter Zentrum eines Staates war, dessen geistig-kulturelle Ordnung aufgrund seiner gotischen Burgen und Kirchen, Stadt- und Dorfgründungen noch heute bis weit hinauf ins Baltikum erlebbar ist: die Marienburg des Deutschen Ordens. 

Nach seinem umfassenden Werk über diese „Mittelalterliche Architektur im Preußenland“ 2007 wandte sich der Kunsthistoriker Christofer Herrmann der romanischen und gotischen Baukunst zwischen Oder und Weichsel zu. Entstanden ist wiederum ein gleichermaßen für Wissenschaftler wie Liebhaber grundlegendes Werk zur „Mittelalterlichen Architektur in Polen“ in seinen heutigen Grenzen – in zwei dicken Bänden. 

Diesmal schreibt Herrmann nicht alleine, sondern fand Mitarbeiter in Deutschland und Polen, darunter als Mitherausgeber den Kunsthistoriker vor allem bedeutender Dome Dethard von Winterfeld und den Deutschordensforscher Udo Arnold, der eine historische Einleitung zum Mittelalter in Polen und zu einzelnen Provinzen – in welche die Bände gegliedert sind – liefert, womit dem Leser stets eine gute Grundlage zum Verständnis der Architekturkapitel beigegeben wird. 

Der erste große Abschnitt befaßt sich mit den Resten romanischer Architektur (10. bis 12. Jahrhundert), vor allem in der Region zwischen Posen und Gnesen sowie in den Städten Krakau und Breslau, und zeigt Kirchen, die auf deutsche Vorbilder und vermutlich auch Baumeister zurückgehen, wie die St. Gereonskirche auf dem Krakauer Wawel, außerdem eigenartige runde Kapellen, die sich von böhmischen Anlagen ableiten. 

Die Kapitel zur Gotik beginnen mit der großen Kunst der Zisterzienser. Ihre älteste Niederlassung lag im schlesischen Leubus (um 1163) und wurde von Pforta bei Naumburg an der Saale aus gegründet. „In ihren Klöstern entstanden erstmals östlich der Oder gewölbte Großbauten, für die es bis dahin keine Tradition gab“, und bei denen man, wie überhaupt in beiden Bänden, nicht mit großformatigen Fotos spart, wie jenen zu dem beeindruckenden Kloster Pelplin in Westpreußen. Nach einem anschließenden Kapitel über die Architektur anderer Orden, darunter das verspielt abwechselnd mit roten und schwarzen Ziegeln gemauerte Franziskanerkloster in Breslau, beginnen die Kapitel zu den sechs Provinzen.

Jacek Kowalski stellt uns Großpolen rund um Posen und Gnesen vor, eine Region, von der er selbst schreibt, daß sie „keine mit herausragenden Künstlern reich gesegnete“ gewesen sei; doch auch hier erheben sich faszinierende Kirchen wie der Dom zu Posen. Bedeutendere Bauwerke finden sich in den Kapiteln von von Winterfeld und Herrmann zu Kleinpolen rund um Krakau und Sandomir. Die einstige polnische Hauptstadt wurde vor allem unter König Kasimir dem Großen (1310–1370) ein Zentrum der Gotik, so mit dem grandiosen Dom, und es heißt, daß der König ein hölzernes Polen vorfand und ein steinernes hinterlassen habe. 

Ausführlich wird etwa die alte Diskussion um den Stifter der kunstreichen Marienkirche in Krakau, den Patrizier Nikolaus Wirsing, dargestellt. Ein anderes Kapitel widmet sich der seit 1257 unter Herzog Boleslaus V. hauptsächlich durch deutsche Bürger neu gegründeten Stadt Krakau. Aber nicht nur städtische Kirchen oder königliche Burganlagen – wie der Wawel in Krakau – werden beschrieben, sondern in beiden Regionen auch ländliche Kirchen oder hübsche adlige Wohntürme. Der erste Band endet mit der Landschaft Masowien zwischen Warschau und Ostpreußen, deren Architektur zum Teil unter dem Einfluß des Deutschordensstaates stand und aus der uns Herrmann einen reichen Schatz an Giebelformen vorstellt. 

Der zweite Band, der sicherlich die Leser in Deutschland besonders interessieren wird, widmet sich den ostdeutschen Landschaften Schlesien, Hinterpommern mit der Neumark und Ost- und Westpreußen ohne die heute russischen und litauischen Teile. 

Schlesien ist „im Hinblick auf das Mittelalter (…) auf dem Gebiet des heutigen Polen die Landschaft mit der weitaus größten Zahl an Denkmälern“. Man merkt Herrmann seine Faszination für diese reiche Kulturlandschaft an, die sich „aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft zu Böhmen und Deutschland (…) in ständigem und unmittelbarem Kontakt mit dem Westen“ befand und daher „schneller Kenntnis von den modernen Entwicklungen als die weiter östlich gelegenen Landschaften“ erhielt, womit sie zum Vorbild der anderen Gebiete wurde. Neben den großen Kirchen Breslaus führt uns Herrmann auch in Kleinstädte und zu Burgen sowie städtischen Profanbauten, wie dem berühmten Breslauer Rathaus oder dem gut erhaltenen Wohnturm Boberröhrsdorf.

In Hinterpommern und der Neumark, denen sich Jaroslaw Jarzewicz zuwendet, übertrafen die Rathäuser und Stadtbefestigungen „hinsichtlich ihres architektonischen Aufwands und der Dekorationsfreude“, wie etwa das filigrane Rathaus zu Stettin, bei weitem die Bauten der anderen Regionen östlich der Oder. Da Hinterpommern von der Forschung stark vernachlässigt wird, ist es zu begrüßen, daß auch kleinere Feldsteinkirchen aufgenommen wurden.

Wer denkt, daß Christofer Herrmann bei dem Kapitel zum Preußenland einfach aus seinem älteren Werk kopiert, der wird freudig überrascht, daß er vollständig neue Kapitel zu lesen bekommt, mit einer traumhaften Bildauswahl. So breitet der Autor anhand der massigen Burgen mit ihren grandiosen Gewölberäumen, den kleineren Amtshäusern, den Domen und Pfarrkirchen sowie den Rathäusern das große Bauerbe des Deutschen Ordens und seiner Bürger vor uns aus. Abschließend stellt er diese Architektur in ihren europäischen Kontext und schreibt: „Diese Symbiose aus Burg und Kloster ist ein origineller Beitrag des Ordenslandes zur europäischen Kunstgeschichte. (…) Es scheint, als ob der Orden bewußt eine einheitliche und Identität stiftende Bauform schaffen ließ.“ Zuletzt führt uns Alexander Konieczny die Schönheit mittelalterlicher Holzbauten in Polen anhand reich dekorierter, gemütlich wirkender Dorfkirchen vor Augen. 

In allen Kapiteln beleben historische Hinweise die architektonischen Beschreibungen, die mit ihren Angaben zu typologischen Merkmalen wie Grundrissen, Giebel- und Gewölbeformen nie eintönig werden; dazu trägt auch die durchgängig farbige Bebilderung bei.

Mit einem lesens- und bedenkenswerten Resümee zu der seit den kunstgeschichtlichen Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts unvermeidlichen Frage, ob es sich um „polnische, deutsche oder europäische Architektur“ handelt, beenden die Herausgeber ein vom Imhof-Verlag prächtig ausgestattetes, beeindruckendes Werk, das der Rezensent jedem, der sich für eine der angesprochenen Regionen oder für die Architektur des Mittelalters interessiert, wärmstens empfiehlt.

Christofer Herrmann, Dethard von Winterfeld (Hrsg.): Mittelalterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel, Band 1. Imhof Verlag, Petersberg 2016, gebunden, 544 Seiten, Abbildungen, 50 Euro

Christofer Herrmann, Dethard von Winterfeld (Hrsg.): Mittelalterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel, Band 2. Imhof Verlag, Petersberg 2016, gebunden, 544 Seiten, Abbildungen, 50 Euro