© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Der Vorsprung schmilzt
Türkei: Zwischen Opposition und Regierung sind kaum thematische Unterschiede auszumachen, der Ausgang der Wahlen bleibt jedoch ungewiß
Marc Zoellner

Je näher der Stichtag der Doppelwahl in der Türkei rückt, um so tiefer reißen die Gräben zwischen den Kontrahenten: Und mit gut 25 Metern Tiefe sowie einer Spannweite von bis zu 150 Metern ist der Istanbul-Kanal – Hauptthema des lautstarken Wahlkampffinales zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von der regierenden konservativen AKP sowie seines Herausforderers Muharrem Ince von der kemalistischen Oppositionspartei CHP – wohl der tiefste von allen.

Noch ist kein einziger Spatenstich gesetzt. Doch bereits 2023, zum hundertsten Jahrestag der Staatsgründung der Türkei, solle die feierliche Einweihung dieses Mammutprojekts stattfinden, versprach Erdogan jüngst. Einerseits, um die tatsächlich stark befahrene Meerenge des Bosporus zu entlasten. Andererseits aber auch, wie Erdogan um sein Vorhaben wirbt, um eine „globale Marke“ zu setzen, die in einem Atemzug  mit dem Panamakanal genannt wird.

Insbesondere bei den Kemalisten stößt Erdogan mit dem Istanbul-Kanal jedoch auf heftigen Widerstand: „Auf keinen Fall werde ich den bauen“, verkündete Ince vergangene Woche während einer Wahlkampfveranstaltung im westtürkischen Izmir. „Ich werde keine Milliarden von Türkischen Lira dafür ausgeben, nur um einen Kanal zu buddeln“, versprach er mit Blick auf die veranschlagten Baukosten von gut 14 Milliarden Euro.

Da Erdogans Wahlkampfstrategie auf eben solchen Megabauwerken fußt – als Bestandteil seiner vor wenigen Jahren präsentierten „Vision 2023“ zur Komplettmodernisierung der Türkei (JF 15/2016) – stellte Inces Affront einen willkommenen Anlaß dar, um die Einladung des Präsidentschaftskandidaten der CHP zur gemeinsamen Fernsehdebatte in den Wind zu schlagen.

„Was will ich mit jemandem besprechen, der nichts zu sagen hat, außer er lehne den Kanal ab?“ konterte Erdogan und begab sich stattdessen symbolträchtig zur Einweihung zweier weiterer Großprojekte im Nordosten des Landes: des neun Kilometer langen Ovit-Autobahntunnels, welcher seit Mitte Juni die Provinzen Rize und Erzurum verbindet, sowie der rund sieben Milliarden Euro teuren Transanatolischen Pipeline, über die künftig aserbaidschanisches Erdgas über die Türkei nach Griechenland und Italien transferiert werden soll.

Umfragen prognostizieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen 

Erdogans erschöpftem Blick auf den Pressefotos ist deutlich anzumerken, wie blank die Nerven in der Türkei vor den gleichzeitig stattfindenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen liegen. Gut sechzig Millionen türkische Staatsbürger sowie drei Millionen Auslandstürken sind am Sonntag aufgerufen, sowohl über ihr neues Staatsoberhaupt als auch über ihre künftige Regierungskoalition abzustimmen. Sechs Kandidaten stehen für die Präsidentschaft zur Wahl, zehn Parteien für das Parlament.

Für die beiden großen zur Wahl antretenden Blöcke, die „Volksallianz“ der islamisch-konservativen AKP mit der nationalistischen MHP sowie das „Bündnis der Nation“ zwischen der kemalistischen CHP, der islamistischen SP und der MHP-Abspaltung IYI (JF 23/2018), prognostizieren die Umfrageinstitute ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Zwar gilt Erdogan als klarer Favorit im Ringen um die Präsidentschaft. Doch der formelle Zusammenschluß der großen Oppositionsbewegungen könnte die AKP auch die Mehrheit im Parlament kosten, was eine Regierungsbildung der Konservativen quasi unmöglich machen würde – erst recht, sollte der prokurdischen HDP der Sprung über die Zehnprozenthürde gelingen. Und die Partei liegt in Umfragen trotz der Inhaftierung ihres Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas derzeit bei weit über zwölf Prozent. Dem Bündnis der Nation wiederum bescheinigen die Meinungsforscher eine rasante Aufholjagd für die vergangenen Monate mit nur noch drei bis sieben Prozent Abstand zur Volksallianz.

Gerade der rapide Wertverlust der Türkischen Lira, die seit 2013 rund 50 Prozent an Kaufkraft gegenüber dem US-Dollar verloren hat, gleicht dabei einem Glücksfall für die Opposition: Denn programmatisch vermochte diese sich bislang kaum von der AKP abzusetzen. In seinem Wahlkampfmanifest bestätigte Ince, ebenso wie Erdogan den Krieg gegen die Terrororganisationen PKK und Islamischer Staat sowie die innerstaatliche Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung „ohne Zögern fortzusetzen“. Und auch ökonomisch schwören CHP und IYI auf die Förderung von Großbauprojekten – nur halt nicht jenes des umstrittenen Istanbul-Kanals.

„Die alleinige Botschaft der Opposition lautet: Genug ist genug, du warst schon zu lange an der Macht“, erläutert Omer Taspinar, Türkei-Experte der US-Denkfabrik Brookings Institution, im Interview mit der Washington Post. „Das könnte vielleicht funktionieren, wenn er achtzig wäre. Doch Erdogan ist immer noch eine Kraft, mit der zu rechnen ist. Und er hat vieles für die Mittelschicht getan.“ Insbesondere das Wirtschaftswachstum von über 7,4 Prozent allein im ersten Quartal 2018, bestätigen Analysten, dürfte gerade dieser Wählerschicht als gewichtiges Argument gelten, Erdogan erneut ihre Stimme zu geben.