© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Mitgefühl will nicht aufkommen
Subjektives Versagen ohne objektive Gründe: Zum 70. Geburtstag des Bestsellerautors Ian McEwan kommt die Verfilmung „Am Strand“ in die Kinos
Sebastian Hennig

Es liegt nahe, die Werke des britischen Erfolgsschriftstellers Ian McEwan zu verfilmen, gehören sie doch zur Gattung der als Belletristik getarnten Drehbücher. Filmisch wirken sie sich schon beim Lesen aus. Nun gelangt der 2007 erschienene Roman „On Chesil Beach“ zum siebzigsten Geburtstag seines Autors unter dem Titel „Am Strand“ in die deutschen Kinos. Es handelt sich um den ersten Spielfim des Theaterregisseurs Dominic Cooke. Der hat aus der knappen Vorlage ein Vielfaches herausinszeniert. 

Jean Paul bemerkte einmal „Geschichten wollen Länge, Meinungen Kürze.“ In diesem Film ist die Geschichte sehr kurz, und lang wird die Meinung darum ausgebreitet. Der Roman hebt an mit den Worten: „Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren.“ Es ließe sich hinzufügen, daß sie zu ihrem Leidwesen gerade nicht mehr in jener Zeit lebten, in der man sich über sexuelle Probleme überhaupt keine Gedanken machte, sondern sie beiläufig löste.

Die kurze Geschichte ist die bedrückende Hochzeitsnacht von Florence Ponting (Saoirse Ronan) und Edward Mayhew (Billy Howle) am Strand von Chesil Beach im englischen Dorset im Jahr 1962. Nach einer gleichfalls mißglückten Aussprache läuft sie direkt auf ihre Scheidung hinaus. Darum herum wird nun das gesellschaftliche Leben im Nachkriegsengland anekdotisch ausgebreitet, eine große Auswahl an objektiven Gründen für subjektives Versagen.

Damit diese Wahl nicht zu sehr zur Qual wird, sollen Kulissen und Kostüme die Aufmerksamkeit fesseln. Die eigentliche Geschichte wirkt im Film zwar noch magerer als auf gedrucktem Papier. Doch die visuelle Andickung der narrativen Wassersuppe gelingt hier naturgemäß besser als im Buch. Die Landschaft, das Provinzhotel, die großbürgerliche Sphäre der Pontings und die kleinbürgerliche der Mayhews, London mit dem Regent’s Canal und der Wigmore Hall, sowie die Universität von Oxford, wo sich das junge Paar während einer politischen Versammlung gegen die atomare Bewaffnung zum ersten Mal begegnet. Dabei entspinnt sich das übliche Verhältnis zwischen schwierigen Temperamenten, wie es sich jedoch in den meisten Fällen ganz natürlich nach und nach auflöst und in eine gute Normalität übergeht.

Sie spielt Violine, er liebt Rock’n’Roll

Diesen Übergang darzustellen, wäre eine echte Herausforderung, die langsame Verschmelzung der Wesenskerne ineinander, eine Hochzeit der Leiber und der Seelen. Daß die Begegnung so früh schon zum Erliegen kommt, ist weniger bemerkenswert als fragmentarisch. Mitgefühl will nicht aufkommen. Ein Nachspiel verschärft die Qual. Schauplatz dafür ist ein berühmter Konzertsaal in London, der 1901 von dem Berliner Klavierbauer Bechstein errichtet und im Weltkrieg dann enteignet wurde. Seit 1917 firmiert die Bechstein-Hall als Wigmore Hall. Die junge Musikstudentin Florence nimmt Edward mit in diese heilige Halle der Kammermusik und schwärmt ihm vor, daß sie hier einst Triumphe feiern wird. Übermütig nimmt er den Platz ein, von wo aus er ihr zuhören und applaudieren wird.

Genau das widerfährt den Auseinandergelebten dann über vierzig Jahre später. Und natürlich rinnen die Tränen. Die Rinnsale nehmen allerdings ihren Weg über ein dermaßen dilettantisches Maskenbild, das beide Schauspieler weniger gealtert als unmenschlich entstellt wirken läßt. Diese ästhetische Entgleisung steht in großem Gegensatz zum sonstigen Aufwand der Verfilmung. Die Sentimentalität des Films wirkt bedrohlicher als die Repression der Gesellschaft, die er uns vorführen möchte.

Auf den Film trifft zu, was beim Erscheinen der deutschen Übersetzung seiner literarischen Vorlage Georg Diez in einer unbarmherzigen Rezension in der Zeit feststellte. „Diese Florence hätte zu jeder anderen Zeit ihre Schwierigkeiten mit dem Sex gehabt – ihr Ekel hatte nichts zu tun mit der Prüderie der Zeit.“ Ian McEwan attestierte er, er sei „gar kein Schriftsteller im eigentlichen Sinn. Er ist eher ein Soziologe, der Romane schreibt; ein Dozent, der etwas beweisen will; ein äußerst geschickter Textingenieur, und wenn ihn sein Geschick verläßt, dann klappern die Rohre und Streben seiner Geschichte recht traurig im Wind.“ 

Tatsächlich erschließt sich nicht, was die gesellschaftlichen Betrachtungen mit dem elementaren Dilemma der beiden Personen zu tun haben sollen. Das Verhältnis von Florence und Edward ist nicht an beider Vorliebe für unterschiedliche Musikstile gescheitert, weil das Fräulein in einem Streichquartett spielt, während der Jüngling sich lieber von den Schwingungen des Rock’n’Roll bewegen läßt. Wahrscheinlich ist auch die Furcht vor der Atombombe damals schon Ausdruck einer Angst vor dem Leben selbst gewesen. Wir erfahren durch „Am Strand“ tatsächlich mehr über die Unfähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, als über das Scheitern einer Liebe.