© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Deutschlands neue nationale Frage
Kampf um die Herkunft
Peter Kuntze

Durch den massenhaften, bis heute unbewältigten Zustrom vorgeblich Asylsuchender aus Vorder­asien und Nordafrika hat sich den Deutschen eine neue nationale Frage gestellt, auch wenn sie von manchen als „nationale Phrase“ verhöhnt wird. Das existentielle Ringen, das immer häufiger Züge eines geistigen Bürgerkriegs annimmt, läßt sich am besten mit Odo Marquards berühmtem Diktum „Zukunft braucht Herkunft“ verdeutlichen: Die einen, die „Zukünftigen“ und vermeintlich Fortschrittlich-Modernen, sehen das Ziel der Geschichte in der Universalität einer Weltgesellschaft, in der eines Tages alle Ethnien und Kulturen als endlich vereinte Menschheit aufgehen werden; die anderen, die „Herkünftigen“, beharren – angesichts der Ungleichheit schon im Individuellen – auf ethnisch-kultureller Differenz und nationalen Identitäten, da sie sich im globalen Staatengefüge höchstens Perioden temporärer friedlicher Koexistenz vorstellen können.

Die sich aus dieser Prämisse ergebenden Widersprüche, von der polit-medialen Klasse stets zu bemänteln versucht, lauten: Bevölkerung oder Volk, EU-Europa oder Nation, Multikulturalismus oder von Antike und Christentum geprägtes Abendland, ungehinderte Zuwanderung oder strikte Grenzkontrolle, Utopismus oder Realismus, optimistisches oder skeptisches Welt- und Menschenbild. In letzter Konsequenz Karl Marx oder Carl Schmitt.

Sicherung und Wahrung der Existenz Deutschlands als Nationalstaat des deutschen Volkes dürften nach überwiegender Meinung seiner Bürger Staatsräson sein. Doch das scheinbar Selbstverständliche ist Vergangenheit. Was Politiker und linksliberale Feuilletonisten schon seit Jahren verkünden, hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem „NPD-Urteil“ vom 17. Januar 2017 auch juristisch besiegelt: Die Karlsruher Richter gehen nicht mehr vom deutschen Volk als dem Souverän der Staatsmacht aus, denn der „ethnische Volksbegriff“, so ihr Votum, sei unvereinbar mit dem obersten Grundsatz der Verfassung – der Menschenwürde des Individuums.

Da die Mitglieder der polit-medialen Klasse so gerne als Weltbürger gelten möchten, gerieren sie sich daheim als vaterlandslose Gesellen, werden aber zu ihrem Leidwesen im Ausland anhand von Aussprache und Mentalität schnell als Deutsche erkannt.

Mit dieser Interpretation haben die Richter den im 18. Jahrhundert auf Johann Gottfried Herder zurückgehenden Volksbegriff mit der völkischen Rassenlehre der Nationalsozialisten gleichgesetzt. Im Gegensatz zum NS-System haben indes die Verfechter jenes auch der bisherigen Verfassung zugrundeliegenden Volksbegriffs weder ethnische Reinheit gefordert noch Völker als höher- oder minderwertig eingestuft. Es entbehrt daher nicht der Ironie, daß die Richter des Zweiten Senats unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle ihr Urteil „im Namen des Volkes“ verkündeten, während Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesminister bis heute feierlich schwören, ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes“ zu widmen.

Begonnen hat die Uminterpretation von Volk, Nation und Identität im Windschatten der Achtundsechziger-Revolution. Nicht, wie manche annehmen, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, aus der DDR stammende Protagonisten, die für die Wiedervereinigung von Volk und Vaterland eintraten, waren für die antinationalen Töne verantwortlich, sondern jene Linksradikalen, die später zu den Gründern und Wortführern der Grünen gehörten. Ihr Vorgehen wurde ihnen aber entscheidend erleichtert durch das, was Dutschkes Witwe Gretchen anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Studentenrevolte in ihrem Buch „1968. Worauf wir stolz sein dürfen“ bilanziert: Die „antiautoritäre Kulturrevolution“, schreibt die 76jährige, habe die bundesdeutsche Gesellschaft weltoffener, toleranter und demokratischer gemacht. Sie geht sogar so weit, zu behaupten, die Achtundsechziger-Bewegung sei die „Vollendung“ jener Demokratisierung in allen Lebensbereichen, die mit der bürgerlichen Revolution von 1848 begonnen habe.

Ferdinand Gregorovius, als Historiker und Journalist Zeitzeuge jener Zeit, dürfte damals etwas ganz anderes für vordringlich gehalten haben: die Nationenwerdung der europäischen Völker und damit auch der Deutschen. Schließlich, so stellte er 1849 in der Neuen Königsberger Zeitung klar, sei nichts natürlicher, als daß die Nationen das einfache Prinzip stammlicher und sprachlicher Zusammengehörigkeit zur Voraussetzung des zu erwartenden neuen Staatensystems machten.

Jene Bürger, die am Ende der DDR vom Ruf „Wir sind das Volk“ zum Ruf „Wir sind ein Volk“ übergegangen sind, haben damit nicht eine multiethnisch und multikulturell strukturierte Gesellschaft gemeint, sondern das deutsche Volk als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer, oft leidvoll erlittener Geschichte. Wer heute die Begriffe „deutsches Volk“ oder „deutsche Nation“ in den Mund nimmt, wird jedoch sofort als Verfechter „völkischen Denkens“ diffamiert, der einer Blut-und-Boden-Ideologie fröne. Bürger, die gegen die Überfremdung ihrer Heimat demonstrieren, müssen sich auf der Straße der staatlich alimentierten Antifa-Krawallerie erwehren. Um den Status quo aufrechtzuerhalten, gehen manche Deutschland-Verächter mittlerweile intelligenter vor: Als Salonrechte drapiert, „dekonstruieren“ sie Heimat, Patriotismus etc. bis zur Banalität, um diese Vokabeln „nicht den Rechten zu überlassen“.

Da die Mitglieder der polit-medialen Klasse so gerne als geborene Weltbürger gelten möchten, gerieren sie sich daheim als vaterlandslose Gesellen, werden aber zu ihrem Leidwesen im Ausland anhand von Aussprache und Mentalität rasch als Deutsche erkannt. Um das Verpönte zu meiden, gibt es innerhalb und außerhalb des Parlaments die aberwitzigsten Verbalverrenkungen. So erklärte Kanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung: „Deutschland, das sind wir alle.“ Der Grüne Anton Hofreiter hält den Nationalstaat für „eher etwas Irrtümliches“; für Gustav Seibt, Historiker und Autor der Süddeutschen Zeitung, ist Identitäres „das Überständige“; Thomas Steinfeld, Kulturkorrespondent der SZ, warf 2016 in einem Artikel über den damaligen dänisch-schwedischen Grenzstreit die Frage nach einem „Gerücht namens ‘nationale Identität’“ auf und fügte dem Begriff „das eigene Volk“ in Klammern die Worte hinzu, „was immer das sein mag“. Nachdem er im April 2018 unter der Rubrik „Ich weiß nicht, wer ich bin“ einen Grundsatzartikel über die Frage der Identität veröffentlichte, schrieb ihm ein erboster Professor: „Wer wirklich nicht weiß, wer er ist, ist nicht bei Verstand.“

Im Mai 2017 erklärte Aydan Özoguz, damals stellvertretende SPD-Vorsitzende und Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, im Tagesspiegel: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ Für Entrüstung sorgte nicht diese Äußerung, sondern die Reaktion des AfD-Politikers Alexander Gauland, man solle Özoguz in Anatolien entsorgen. Erst Peer Steinbrück, Ex-Kanzlerkandidat der SPD, zeigte sich empört. Eine spezifisch deutsche Kultur abzustreiten, sei fatal, weil es dem Vorurteil Vorschub leiste, die SPD habe ein gestörtes Verhältnis zum nationalen Erbe. Seine Partei müsse sich auch fragen, ob das Pendel in den vergangenen Jahren nicht zu weit „in Richtung einer Vielfaltseuphorie und eines gehypten Multikulturalismus“ ausgeschlagen sei. Steinbrücks ehemaliger Parteigenosse, der 2015 aus der SPD ausgetretene deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk, gab sich im Februar 2018 gleichwohl zuversichtlich, daß in Deutschland das „historisch einzigartige Experiment, (...) eine monoethnische und monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln“, gelingen könne.

Das radikalste Konzept, um Volk und Nation endlich zu überwinden, stellte Andrian Kreye, Kulturchef der Süddeutschen, seinen linksliberalen Lesern bereits im Dezember 2014 vor. Hinter dem Patriotismus in den USA, konstatierte er, stehe nicht nur die Heimatlosigkeit, die alle amerikanischen Bürger je nach Abstammung und mit Ausnahme der Ureinwohner mehr oder minder gemeinsam hätten; die Verbundenheit mit der neuen Heimat gründe sich auch nicht auf so abstrakte Dinge wie Verfassung, Flagge oder Hoffnung auf ein besseres Leben – nein, es sei vor allem die Bereitschaft, die Wurzeln hinter sich zu lassen und damit auch die eigene, mitgebrachte Kultur. Die vermeintliche „Kulturlosigkeit“ sei den Europäern immer ein Graus gewesen. Dabei gründe sich diese Loslösung auf philosophische Werte: Andrian Kreye zufolge sind es die Konzepte der Postnationalität, der postethnischen Gesellschaft und des Postkulturalismus, die hier geprobt würden.

Die materielle Basis, um mit dem wieder vielzitierten Marx zu sprechen, gebiert nicht automatisch den ihr entsprechenden ideellen Überbau – will sagen, die Weltwirtschaft macht weder eine Weltgesellschaft noch eine Weltregierung erforderlich.

In letzter Instanz handle es sich um radikale Gleichheitsgedanken – um einen Weg, der einer Einwanderungsgesellschaft wie der deutschen helfen könne, sich mit dem „permanenten Wandel der eigenen Identität“ auseinanderzusetzen. Um einem identitätslosen Deutschland näher zu kommen, zitierte Kreye zustimmend den US-Philosophen Kwame Anthony Appiah, der die Bereitschaft fordert, ganze Kulturen untergehen zu lassen.

Anläßlich des 200. Geburtstages von Karl Marx ging ein Aufatmen durch den linken und linksliberalen Blätterwald. Marx, so die freudige Botschaft, sei aktueller denn je. „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet“ – diese Worte aus dem „Kommunistischen Manifest“ von 1848, mit denen Marx die Globalisierung vorausgesehen hat, wurden vielerorts zitiert. So mancher schöpfte daraus neue Hoffnung, daß die Vereinheitlichung der Welt keine Utopie bleiben werde. Doch die materielle Basis, um mit Marx zu sprechen, gebiert nicht automatisch den ihr entsprechenden ideellen Überbau – will sagen, die Weltwirtschaft macht weder eine Weltgesellschaft noch eine Weltregierung erforderlich.

Das letzte Wort gebührt daher Carl Schmitt. In jedem Staat, so sein umstrittenes Diktum, sei die Unterscheidung von Freund und Feind das wesentliche Kriterium, auf das sich alles politische Handeln zurückführen lasse. Erst eine Welt, in der diese Unterscheidung hinfällig sei, mithin ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne Politik und somit das Ende der Geschichte. Bis dahin gilt der Satz, mit dem Schmitt manche seiner Vorlesungen beendete: Alle Menschen werden Brüder – wie Kain und Abel.






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Umdeutung von Begriffen („Linksausleger des Zeitgeistes“, JF 43/17).

Foto: Der Mensch braucht Verwurzelung: Wollen wir Volk oder Bevölkerung sein, Realisten oder Schwärmer?