© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Auf der Grenze zwischen Kultur und Barbarei
Kadettenerziehung, Freikorps und die Ambivalenzen der Moderne: Gregor Fröhlich präsentiert den Antibürger Ernst von Salomon als Zeitgenossen Kafkas
Oliver Busch

Kurz nach dem Mauerfall reichte Markus J. Klein seine bei Hans-Joachim Arndt in Heidelberg entstandene Dissertation über Ernst von Salomon (1902–1972) ein, einen der neben Ernst Jünger bekanntesten Exponenten des „Soldatischen Nationalismus“. Doch das Promotionsverfahren scheiterte am negativen Votum des Zweitgutachters, dem zufolge das Manuskript mehr ein Referat als die zum Nachweis wissenschaftlicher Befähigung erforderliche Analyse bot.  

Tatsächlich baute sich dieser vehemente Widerstand deswegen auf, weil die Arbeit gerade in Heidelberg als provokantes Politikum begriffen wurde. Denn einerseits galt ihr Betreuer Arndt spätestens nach seiner Abrechnung mit der angelsächsisch-liberalen oder neomarxistischen, so oder so aber exzessiv „lagevergessenen“ westdeutschen Politologie („Die Besiegten von 1945“, Berlin 1978) nicht nur unter Kollegen an der Ruperto Carola als rechtsintellektueller Dissident vom Schlage eines Armin Mohler und Hans-Dietrich Sander. 

Den Einfluß solcher systemkritischen Geister auf den akademischen Nachwuchs galt es zu verhindern. Zumal die linke Diskurshoheit im Zeichen der Wiedervereinigung leise zu bröckeln begann. Anderseits schien Klein solche Befürchtungen noch zu bestätigen, denn seine „politische Biographie“ des Rathenau-Attentäters von Salomon machte keine Zugeständnisse an die etablierte Praxis, deutsche Geschichte zwischen 1871 und 1945 moralistischen Postulaten der bundesrepublikanischen Gegenwart zu unterwerfen. Und daher, so ätzte Mohler im Vorwort der 1994 gedruckten Fassung von Kleins Monographie, drängte es sich der „linken Intelligenzia“ geradezu auf, den Zugang zu ihren „Bastionen“ an den Hochschulen „streng zu kontrollieren – insbesondere wenn man seinen Sitz dort mehr der politischen Konjunktur als der eigenen Tüchtigkeit zu verdanken hat“.

Keine Deutungsmuster über „Sexualitätsmaschinen“

Ein Vierteljahrhundert später scheinen solche Fronten aufgeweicht. Jedenfalls hörte man nichts davon, daß 2016 Gregor Fröhlichs Tübinger Dissertation „Ernst von Salomon und der Soldatische Nationalismus“ ähnliche Querelen auslöste. Was indes keineswegs heißt, daß Salomon-Forschung als Segment der Historiographie der „Konservativen Revolution“ heute ohne ideologische Scheuklappen auskäme. Im Gegenteil: Umgekehrt proportional zur enormen quantitativen Zunahme an KR-Studien ist deren wissenschaftliche Qualität kontinuierlich deshalb gesunken, weil das Gros ihrer Verfasser sich immer nationalmasochistischer gebärdet und sich mit Wollust politisch-korrekte Fesseln anlegt.  

Hingegen fällt Gregor Fröhlichs vorbildlich vielschichtige, vom staunenswert weiten zeithistorischen Horizont des jungen Verfassers zeugende Untersuchung nicht in diese Kategorie volkspädagogischer Propaganda. Um aber seine Ausnahmestellung angemessen zu würdigen, empfiehlt sich die parallele Lektüre eines das Durchschnittsniveau hiesiger Salomon-Literatur spiegelnden Aufsatzes von Hannelore Roth. Darin widmet sich die wissenschaftlich nicht profilierte Lehrerin dem autobiographischen Roman „Die Kadetten“ (1933), der Salomons Jugendjahre als Zögling des preußischen Kadettenkorps schildert, die im Strudel der Novemberrevolution, mit dem Eintritt in ein gegen Kommunisten im Innern wie gegen bolschewistische und polnische Aggressoren an den östlichen Reichsgrenzen fechtendes Freikorps endeten (Weimarer Beiträge, 4/2017). Hier fehlt kein Klischee, keine der üblichen Referenzgrößen, allen voran Michel Foucault („Überwachen und Strafen“) und Klaus Theweleit („Männerphantasien“). Folglich holt Roth aus dem Text nur heraus, was sie mit deren antiquierten Deutungsmustern in ihn hineinliest. 

Die Kadettenanstalten waren demnach, behauptet die von „Gender trouble“ hypnotisierte Roth in Unkenntnis der im frühen 18. Jahrhundert liegenden Ursprünge dieser Institution und in grotesker Überschätzung ihres spezifischen Gewichts in der deutschen Erziehungslandschaft, „Sexualitätsmaschinen“, die die im wilhelminischen Kaiserreich brüchig gewordene Sozialisationsagentur „patriarchalische Familie“ ablösten. 

Anstelle des Vaters sei der Kadett auf ein „männerbündisch-homoerotisches Kollektiv“ ausgerichtet worden. In dieser aus „Körperpanzern“ formierten elitären Gemeinschaft „faschistischer Subjekte“, die sich in die – notabene: von der sozialdemokratischen Reichsregierung gerufenen – Freikorps integrierte, erblickte während der Geburtswehen der Weimarer Republik jenes „militärische Modell der Gesellschaft“ das Licht der Welt, für das Oswald Spenglers „Preußischer Sozialismus“ (1919) pünktlich das Programm entwarf, und das Roth à la mode als Vorläufer des 1933 etablierten „militaristischen Führerstaates“ samt seiner Verbrechen präsentiert. 

Mit Maître Foucault markiert sie darum ausgerechnet die spartanische Kadettenerziehung als Paradigma „biopolitischen Leistungs- und Effizienzdenkens“. Damit schiebt sie im Kielwasser dieses großbourgeoisen Neoliberalen Preußen-Deutschland zu, was unzweifelhaft zur urkapitalistisch-angelsächsischen DNA gehört: die Reduktion des Menschen zum atomisierten, von seinen ethnischen, kulturellen, sozialen Bindungen „befreiten“ Ausbeutungsobjekt. Indem die Hütchenspielerin Roth jedes Kollektiv, gleich ob Kadettenhaus, Freikorps, Reichswehr, Staat, Nation, letztlich als „faschistisch“ denunziert und mit Auschwitz gleichsetzt, transportiert ihre Salomon-Interpretation die ihr inhärente neoliberale Botschaft vom Glück der Entgrenzung und Entortung, der Auflösung gewachsener Gemeinwesen in marktkonforme Myriaden diverser Minoritäten. 

Preußens Kadettenerziehung  war vergleichbar moderat

Es gehört zu den beachtlichen Vorzügen von Gregor Fröhlichs Untersuchung, daß sie sich auf 400 Seiten frei hält von derartigen, Mitleid erregenden Konstruktionen der dem Welt- und Geschichtsbild von Grundschülern verhafteten Generation Bologna-Geschädigter. Entsprechend gut fundiert fallen bei ihm im ersten Kapitel die Urteile zur soldatischen Männergemeinschaft des Kadettenhauses aus. Nicht zuletzt, weil Fröhlich den Vater aller Erkenntnis bemüht, den Vergleich. Wie die bis heute andauernde Tradition der Kadettenanstalten in den USA und Großbritannien zeige, müssen diese Institutionen nicht zwangsläufig demokratiefern sein. 

Auch seien die preußischen Anstalten im internationalen Vergleich „keineswegs eine besonders verrohte deutsche Sonderform“, sondern folgten denselben Prinzipien und Mechanismen, die überall als notwendig für die Prägung soldatischer Identität gelten. „Soziale Absonderung und interne Tyrannei“ gab und gibt es ebenso im angelsächsischen und russischen Kadettenkorps. Ja, im Verhältnis zu ihnen „war der Lehrplan der preußischen Kadettenhäuser sogar sehr fortschrittlich ausgerichtet“.

Die spezifische Sozialisation verlangte von Jugendlichen freilich Opfer. „Kadett zu sein bedeutete auch immer, einsam zu sein.“ Aber was diese prämoderne Vereinsamung von ihrer modernen Variante unterschied, war, „daß sie nicht auch gleichzeitig metaphysische Vereinsamung mit sich brachte“. Denn stets fand sich der Kadett im sinnstiftenden Kollektiv aufgehoben. Die Einschränkung jener individuellen Autonomie, die die „angelsächsische Definition von Freiheit und Gleichheit“ zwar verspreche, aber als den einzelnen von seinen Bindungen lösende „negative Freiheit“ nie gewähre, werde durch die Vorteile des „bis 1945 und darüber hinaus“ gültigen preußisch-protestantischen Freiheitsbegriffs reichlich kompensiert. Der Staat ist nach deutschem Verständnis der verläßlichste Garant der Freiheit des Gemeinwesens nach außen und der pflichtgebundenen bürgerlichen Freiheiten im Innern.

Der Untergang der Hohenzollernmonarchie habe orientierungslose Jungsoldaten wie von Salomon 1918 in „Räume der Gewalt“ entlassen. Gegen den harten Bruch der Novemberrevolution hätten sie, die sich als dessen „Opfer“ fühlten, ihrerseits mit „Gewalt“ reagiert. In dem fünf Kapitel umfassenden Herzstück seiner Arbeit bettet Fröhlich diese Gewaltgeschichte der Grenz- und Bürgerkriegsschauplätze ein in den Zusammenhang einer tiefenscharfen, dichten Beschreibung der Ambivalenzen der Moderne. So hindert ihn kein Maulwurfsblick mit der Perspektive auf 1933 und nichts nötigt ihm die Zumutung auf, die Geschichte der Weimarer Republik zur bloßen Vorgeschichte des „Faschismus“ zusammenschnurren zu lassen. 

Statt ahistorisch-psychologisierend über die ort- und zeitlose, wundersamerweise trotzdem exklusiv deutsche Erzeugung von „Biomacht“ zu spekulieren, spürt Fröhlich den konkreten Freund-Feind-Konstellationen nach, die sich nicht per Diskurs, durch Verhandlung und Kompromiß neutralisieren ließen, sondern, im Barrikaden- und Häuserkampf gegen Spartakus, im existentiellen Ausnahmezustand des Einsatzes gegen die Rote Armee im Baltikum, nur durch Gewalt zu entscheiden waren, getreu Lenins Devise „Wer wen?“

Fröhlich erschließt dem Werk von Salomons, vor allem dem der Freikorps-Zeit gewidmeten Erstling „Die Geächteten“ (1930), ganz neue Bedeutungsschichten. Dessen manifeste Antibürgerlichkeit, das Gespür des Autors für den dünnen Firnis der Zivilisation, die Brüchigkeit sozialer Ordnungen, stellt den „soldatischen Nationalisten“ in die Nähe Franz Kafkas, für den in bürokratischer Scheinrationalität der Wahnsinn hauste und für den sich Normalitäten so blitzartig verwandelten, daß Gregor Samsa als Mensch zu Bett ging, um als Käfer zu erwachen. Im Unterschied zu dem etwas älteren Prager, der keinen Ausweg aus den labyrinthischen Nachtseiten der bürgerlichen Welt wußte, vermittelte Salomon die Kriegserfahrung die Illusion, durch Rückkehr ins elementare Leben im Kosmos „essentieller Feindschaften“ das entfremdete Dasein in der Massenzivilisation hinter sich lassen zu können.

Der postheroischen „Neuen Rechten“, sozialisiert im scheinbar ewigen bundesdeutschen Frieden, ist Ernst von Salomon, im Grunde auch der Krieger Ernst Jünger und die gesamte „Frontliteratur“ produzierende Autorenschar der zwanziger Jahre, fremd geworden. Eine Disposition, die dann die resignative Übernahme „antifaschistischer“ Lesarten erleichterte. 

Spätestens seit dem Sommer 2015 ist jedoch eine neue Lage entstanden, geschaffen durch die Masseneinwanderung und die totalitäre Herausforderung der europäischen Zivilisation durch den als Religion verkappten Totalitarismus des Islam, dessen Expansion wieder Räume der Gewalt zu öffnen verspricht. Das Empfinden für die Verletzlichkeit ziviler Zustände hat daher zugenommen, ebenso ist das Bewußtsein für die Bedrohung durch unversöhnliche Feinde gestiegen. Keine schlechte Voraussetzung, um mit Gregor Fröhlich Ernst von Salomon als Zeitdiagnostiker von unverändert hohen Graden kennenzulernen. 

Gregor Fröhlich: Soldat ohne Befehl. Ernst von Salomon und der Soldatische Nationalismus, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn/Leiden 2018, gebunden, 426 Seiten, 49,90 Euro