© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Alle unter einen Hut bekommen
Bosnien-Herzegowina: Das komplizierteste Wahlsystem Europas ist ein Spiegelbild der ethnischen Konflikte
Hans-Jürgen Georgi

Am 7. Oktober dieses Jahres will der Vielvölkerstaat Bosnien-Herzogowina (BiH) ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten wählen. Die Angst ist groß, denn der Urnengang könnte die Konflikte zwischen den Volksgruppen in dem Balkanstaat weiter verschärfen. Der Grund: das wohl komplizierteste Wahlgesetz Europas. Dessen Geschichte beginnt mit dem nach Kriegsende 1995 geschlossenen Dayton-Friedensvertrag zwischen den zwei kriegsführenden Parteien – den Serben auf der einen und den Bosniaken und Kroaten auf der anderen Seite.

Dem Regelwerk wurde damals auch die Verfassung des Staates Bosnien-Herzegowina als „Annex IV“ beigefügt. Diese Verfassung sah unter anderem die Zusammensetzung der Organe des neuen Staates und ihre Art der Wahl vor. Bei der letzten Volkszählung 2013 lebten im Gesamtstaat BiH 50,1 Prozent Bosniaken, 30,8 Prozent Serben und 15,4 Prozent Kroaten. Fast identisch war das entsprechende religiöse Bekenntnis (50,7 Prozent Moslems, 30,75 Prozent Orthodoxe und 15,19 Prozent Katholiken). 

Diese drei konstitutiven Völker wählten bis zum Ende der neunziger Jahre je einen ihrer Vertreter in das nominell oberste Gremium des Gesamtstaates, das dreiköpfige BiH-Präsidium. Das Problem: Diese Regel widersprach den allgemeinen Menschenrechten, die dem Dayton-Vertrag vorangestellt sind. Deshalb hob die OSZE vor der Wahl im Jahr 2000 per Dekret die Abstimmung nach Ethnien auf. Jeder Staatsbürger konnte die Mitglieder im BiH-Präsidium von nun an direkt wählen. Abgestimmt aber wird jeweils in den sogenannten Entitäten, denn der Gesamtstaat BiH besteht aus zwei Teilen, einmal der Föderation BiH (FBiH) und zum anderen aus der Republika Srpska (RS).

Sie sind durch den Dayton-Vertrag mit staatsähnlichen Zuständigkeiten ausgestattet. Da in der RS über 80 Prozent der Einwohner Serben sind, ist die Wahl des Präsidiumsvertreters klar und einfach. Ganz anders in der FBiH, wo etwa 70 Prozent der Einwohnerschaft Bosniaken sind, Kroaten nur etwas über 22 Prozent. So können auch Bosniaken den kroatischen Vertreter im BiH-Präsidium bestimmen, ohne daß er unbedingt die kroatischen Interessen vertritt.

Im Jahr 2009 erfuhr dieser schwelende Konflikt eine neue Dimension. Der Roma Dervo Sejdic und der Jude Jakob Finci klagten, daß ihnen das passive Wahlrecht sowohl für das Staatspräsidium als auch für das „Haus der Völker“, einem der unzähligen Parlamente, verwehrt wird, weil sie nicht zu einem der drei konstitutiven Völker gehörten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihnen recht. Es handle sich um Diskriminierung und sei somit abzuschaffen.

Nach Anwendung des Urteils müßte also die Verfassung geändert werden. Dies käme aber einer Quadratur des Kreises gleich, denn die Verfassung ruht auf der Konstitutivität der drei Nationen, so wie es seinerzeit im Dayton-Vertrag vereinbart wurde. Auch Verfassungsrechtler warnten davor, das Urteil anzuwenden. Schließlich könnte es den Staat in einen neuen Konflikt stürzen, ein Staatszusammenbruch sei wahrscheinlich.

Und die momentane Situation sieht wie eine Bestätigung dieser Auffassung aus. Da in den vergangenen zehn Jahren keine Lösung zur Verfassungänderung gefunden wurde, sind der Fall Sejdic-Finci und andere, ähnlich gerichtete Urteile bis heute nicht in die Verfassung und in das Wahlgesetz eingearbeitet worden.

Im Dezember 2016 bekam die Diskussion über die Änderungen des Wahlgesetzes einen neuen Impuls. Infolge der Klage eines bosnischen Kroaten entschied das BiH-Verfassungsgericht, daß das Wahlgesetz hinsichtlich der Wahl des Staatspräsidiums, derzeit bestehend aus Mladen Ivanic (Serbe), Dragan Covic (Kroate) und Bakir Izetbegovic (Bosniake) und der Delegierten für das „Haus der Nationen“ in der Föderation BiH geändert werden muß.

Als im April des folgenden Jahres die Kroaten Vorschläge präsentierten, wurden diese ohne Diskussion einhellig von den bosniakischen Parteien abgelehnt. Es sei das Urteil zur Sache Sejdic-Finci nicht eingearbeitet worden, so die Begründungen. Zudem sah man die vitalen Interessen des bosniakischen Volkes berührt.

Mediationsgespräche bleiben ergebnislos

Mit Vorschlägen und Gegenvorschlägen verging die Zeit. Es verdichtete sich der Eindruck, daß das Interesse der bosniakischen Parteien an einem neuen Wahlgesetz nicht übermächtig ist. Denn den Bosniaken genügt der Status quo, um ihre Dominanz in der Föderation weiterhin ausspielen zu können.

So fordern die bosniakischen Vertreter, selbst die nationalistische Moslem-Partei SDA oder die Islamische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, vehement einen Staat, in dem nur noch „Bürger“ und keine Nationen mehr eine Rolle spielen sollen.

Doch mit einer „Entnationalisierung“ der Verfassung würden die Bosniaken nicht minder nationalistisch, sondern könnten nun ihre Bevölkerungsmehrheit politisch ungehindert ausbauen. Die Kroaten befürchten, daß aus der Föderation der Bosniaken und Kroaten schrittweise eine „bosniakische Föderation“ wird. Sie würden den Status eines gleichberechtigten Volkes verlieren und würden faktisch zur Minderheit.

Der Vertreter der Kroaten in der FBiH und jetzige Staatspräsident Covic, meinte unlängst überspitzt, daß ein „bürgerlicher Staat“ im Grunde einen „islamischen Staat“ bedeuten würde. Dies zu verhindern war aber gerade eines der Ziele der internationale Gemeinschaft in den 90er Jahren.

Seit über einem Jahr nun dauern die  Verhandlungen über die Änderung des Wahlgesetzes an. Jede Seite, sowohl die größte Partei der bosnischen Kroaten, die HDZ, als auch die verschiedenen Parteien der Bosniaken, haben Vorschläge unterbreitet, die von der jeweils anderen Seite abgelehnt wurden. Doch auch die Suche nach einem gemeinsamen Nenner blieb aus. Die internationale Gemeinschaft schaltete sich ein.

Der letzte Einigungsversuch vor der Ausschreibung der Wahl, von der Presse auch als „D-Day“ bezeichnet, fand am 3. Mai statt. Die Vertreter der wichtigsten fünf Parteien der Föderation trafen unter Mediation eines EU-Vertreters und der US-Botschafterin Maureen Cormack wieder keine Vereinbarung.

Obgleich sich die Republika Srpska in die Auseinandersetzungen um das Wahlgesetz nicht involviert sieht, drückte ihr Präsident, Milorad Dodik, seine volle Unterstützung für das Prinzip „Jedes Volk wählt seine eigenen Vertreter“ aus. Er begründete dies mit der bisherigen Erfolglosigkeit der Wahlgesetzänderung.

Die Koalition aus bosnischen Kroaten und bosnischen Serben beunruhigt die internationale Gemeinschaft. Dodik ist nicht nur für sein Streben nach Anschluß der Republika Srpska an Serbien bekannt, sondern auch für seine rußlandfreundliche Haltung. Auf der anderen Seite stehen die Bosniaken mit der wachsenden Unterstützung Erdogans. Wenn die EU weiterhin auf einen „bürgerlichen“ Staat BiH setzt, der sich in der FBiH aber zu einem „bosniakischen“ Staat wandeln wird, stehen die bosnischen Kroaten alleine da.