© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ – eine notwendige Verteidigung
Popper fürs Praktische
Dirk Driesang

Obwohl es stellenweise so wirkt, als sei Karl Poppers zweibändiges Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ für unsere Zeit verfaßt, entstand es im neuseeländischen Exil bereits bis 1944 und kostete den Denker „9 Zähne und einen Abszeß“. Die Begriffe „Demokratie“ und „offene Gesellschaft“ werden heute oft in einem verkehrten Sinn eingesetzt. Tatsächlich fällt sogenannten „Demokratiefeinden“ regelmäßig die Rolle von „Demokratieschützern“ zu (und umgekehrt); angebliche „Feinde der offenen Gesellschaft“ sind in Wirklichkeit deren intensivste Anhänger, manchmal ohne es selbst zu realisieren. Es herrscht eben allenthalben babylonische Verwirrung, diesmal der Begriffe selbst.

In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ treffen wir auf diese Definition: „Im folgenden wird die magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft auch die geschlossene Gesellschaft genannt werden; die Gesellschaftsordnung aber, in der sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen, nennen wir die offene Gesellschaft.“ Obwohl Popper sagt, „daß der Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft eine der größten Revolutionen genannt werden kann, die die Menschheit durchgemacht hat“, so ist er doch weit davon entfernt, diesen Übergang zu romantisieren, wie anhand seines übertriebenen und theoretischen Beispiels einer „rein abstrakten“ Gesellschaft deutlich wird: „Denn obgleich die Gesellschaftsform abstrakt geworden ist, hat sich doch die biologische Struktur des Menschen nicht sehr verändert; die Menschen haben soziale Bedürfnisse, die sie in einer abstrakten Gesellschaft nicht befriedigen können.“

Ebenso gibt Popper zu bedenken: „Zur gleichen Zeit finden wir die ersten Symptome eines neuen Unbehagens. Die Last der Anforderungen der Zivilisation begann fühlbar zu werden.“ Und weiter: „Es ist eine Last, die von allen getragen werden muß, die in einer offenen und teilweise abstrakten Gesellschaft leben und die sich bemühen müssen, vernünftig zu handeln, zumindest einige ihrer emotionalen und natürlichen Bedürfnisse unbefriedigt zu lassen und für sich und für andere verantwortlich zu sein.“

Obwohl die offene Gesellschaft erkennbar nicht perfekt ist, verteidigt Popper sie: „Wenn wir erst mit der Unterdrückung von Vernunft und Wahrheit beginnen, dann müssen wir mit der brutalsten Zerstörung alles dessen enden, das menschlich ist.“

Obwohl die offene Gesellschaft erkennbar nicht perfekt ist, verteidigt Popper sie eindringlich: „Wenn wir erst mit der Unterdrückung von Vernunft und Wahrheit beginnen, dann müssen wir mit der brutalsten und heftigsten Zerstörung alles dessen enden, das menschlich ist. Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen – wir müssen zu Bestien werden.“ Mit Sokrates und Kant folgt für Popper daher: „Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur ... den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen (…) die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit.“

Die offene Gesellschaft ist höchst anspruchsvoll und ständig vom Rückfall in eine totalitäre Staatsauffassung – mit einer völlig anderen Moral – bedroht, die verlockend bequem zu sein scheint. Die „Moral der geschlossenen Gesellschaftsordnung – der Gruppe, des Stammes, der Horde; sie ist nicht individuelle, sondern kollektive Selbstsucht“. Was dies auch impliziert, erfahren wir an anderer Stelle: „Eine andere psychologische Tatsache (...), die schwierige politische und institutionelle Probleme schafft, beruht auf dem Umstand, daß das Leben im Schoße eines Stammes oder einer ‘Gemeinschaft’, die einem Stamme gleicht, für viele Menschen eine emotionale Notwendigkeit ist.“ Popper nennt das eine „Last der Zivilisation“, denn unerfüllte emotionale Notwendigkeiten werden als „unerfreulich und beunruhigend“ wahrgenommen.

Blicken wir auf die aktuelle Situation in Deutschland mit Hunderttausenden eingewanderten Menschen, die aufgrund ihrer soziokulturellen Prägung ein emotionales Bedürfnis haben, in einer Stammes- oder Gruppengeborgenheit zu leben und somit Anhänger einer totalitären Staatsauffassung mit entsprechender Moral sind, so müssen wir mit Popper feststellen, daß diese augenblicklich für die offene Gesellschaft untauglich sind. Der rasche Zuzug so vieler Menschen aus tribalem Kulturkreis stellt einen Frontalangriff auf die offene Gesellschaft dar. Popper hat erkannt, daß dieser Konflikt kein trivialer ist, denn er schreibt von „schwierigen politischen und institutionellen Problemen“, die daraus resultieren.

Wer den Zuzug von jährlich Hunderttausenden in geschlossenen Gesellschaften sozialisierten Menschen billigt, der erweist sich in dieser Tat als ein Feind der offenen Gesellschaft. Solche Politik muß sukzessive dazu führen, „die Vernunft über Bord zu werfen und durch eine verzweifelte Hoffnung auf ein politisches Wunder zu ersetzen“. Weiter schreibt Popper: „Sogar mit den besten Absichten, den Himmel auf Erden einzurichten“, vermag solche Politik, „diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln“. Es ist dies die großräumige Anwendung einer totalitären „utopischen Sozialtechnik“, „die ... in der Anwendung der experimentellen Methode auf die Gesellschaftsordnung bestehe“. Die utopischen Techniker seien überzeugt, „bei Experimenten mit der Gesellschaft ihre Gesamtstruktur umformen [zu] müssen“.

Die herrschende Politik bedient sich im Rahmen eines solchen gigantischen Experimentes totalitärer, utopischer Ideen und wird, wenn man sie gewähren läßt, die offenen Gesellschaften Europas zurück in geschlossene Gesellschaften verwandeln, mit allen Konsequenzen. Wir sind somit Zeitzeugen einer radikalen Reaktion angeführt von Pseudoeliten im Namen des „Fortschritts“. Ein Politiker, der sich demgegenüber die Poppersche Methode der „Sozialtechnik der Einzelprobleme“ zu eigen macht, „wird einsehen, (…) daß jede Generation von Menschen (…)  ihre Rechte hat; vielleicht nicht so sehr ein Recht auf Glück – denn es gibt keine institutionellen Mittel, um einen Menschen glücklich zu machen –, aber doch ein Recht, nicht unglücklich gemacht zu werden“.

Die „Eliten“ stehen in ihrem Kampf gegen die offene Gesellschaft nicht alleine. In spezieller Ableitung eines allgemeinen Popperschen Kriterienkatalogs zur geschlossenen Gesellschaft handelt es sich beim Islam um ein idealtypisches System einer geschlossenen Gesellschaft, das nach islamischem Glauben aus unmittelbarer Gottesoffenbarung stammt. Man kann den klassischen Islam als Angriff auf die offene Gesellschaft interpretieren, jedenfalls steht er dieser feindlich gegenüber. Dennoch gibt es zahlreiche Muslime, die ihren Islam privat so leben beziehungsweise auslegen, daß er durchaus zur offenen Gesellschaft paßt. 

Popper erinnert auch daran, daß sich sogar das Christentum entgegen seiner zentralen Botschaft des liebenden Individuums zwischendurch zum totalitären Instrument hatte umformen lassen. Der Islam hat hingegen von Anfang an ein entschieden antiindividualistisches und totalitäres Programm: „Der richtige Weg ist stets vorgezeichnet (…) Er ist durch Tabus und magische Stammesinstitutionen bestimmt, die niemals Gegenstand kritischer Überlegungen werden können.“ Das kann unmittelbar auf die klassischen Auslegungen des Islams übertragen werden und steht der offenen Gesellschaft und der darin geltenden „Autonomie der Ethik“ in denkbar krasser Weise gegenüber, denn in dieser tragen die Bürger „ganz allein die Verantwortung für die Annahme oder für die Ablehnung vorgeschlagener moralischer Gesetze“.

Popper hilft uns in der schwierigen Islamdiskussion noch mit einem entscheidenden Kriterium weiter, das wir auf jede Religion und deren Anhänger anwenden können: „Die Lehre von der Autonomie der Ethik ist (…) mit jeder Religion vereinbar, die das individuelle Gewissen respektiert. Und für eine solche Religion scheint sie sogar notwendig zu sein.“ Dies ist der Prüfstein: Respektiert die Religion das individuelle Gewissen? Das Apostasieverbot im Islam und folgende islamische Schlagzeile verdeutlichen schlaglichtartig die Problematik: „Gott allein ist der Gesetzgeber.“ Ein schärferer Angriff auf die offene Gesellschaft ist selten formuliert worden.

Die offene Gesellschaft ist jedoch weder wehrlos, noch ist sie gleichzusetzen mit „offenen Grenzen“: „Ich verlange Schutz für meine Freiheit und für die Freiheit anderer. Ich möchte nicht einem Menschen ausgeliefert sein, der die größeren Fäuste oder die besseren Waffen besitzt. Mit anderen Worten: Ich wünsche gegen die Angriffe anderer geschützt zu werden. (…) Ich verlange, daß der fundamentale Zweck des Staates nicht aus dem Auge verloren werde; nämlich der Schutz jener Freiheit, die den anderen Bürgern keinen Schaden zufügt. (…) Der Staat [soll] als eine Gesellschaft ... zur Verhütung von Aggression betrachtet werden.“

Für die Abschaffung von Nationalstaaten zu sein, weil man für die offene Gesellschaft eintritt, entpuppt sich als populärer Irrtum, denn gerade in der globalisierten Welt erweisen sich moderne Nationalstaaten als Hauptpfeiler von Demokratie und offener Gesellschaft.

Poppers Staatstheorie hat „nichts mit der Politik strikter Nicht-Intervention zu tun“. „Der Liberalismus und das Eingreifen des Staates stehen zueinander nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Freiheit jeder Art ist klarerweise unmöglich, solange sie nicht durch den Staat gesichert wird.“ Und noch deutlicher: „Aber wenn die Erhaltung der Demokratie nicht zur ersten Regel jeder einzelnen Schlacht auf diesem Kampffeld gemacht wird, dann können die latenten antidemokratischen Tendenzen (...) einen Zusammenbruch der Demokratie herbeiführen.“ Wie für uns Heutige geschrieben dies: „Wo das Verständnis für diese Prinzipien fehlt, dort muß für seine Entwicklung gekämpft werden; die umgekehrte Politik (…) kann dazu führen, daß der wichtigste Kampf verloren geht, nämlich der Kampf um die Demokratie selbst.“ Wo die Regeln der offenen Gesellschaft gebrochen werden, dort ist die Demokratie in der Pflicht, zu kämpfen. Wer hier kneift, ist ein Feind der offenen Gesellschaft, und Popper selbst hat keine Probleme, in diesem Zusammenhang von Kampf und Schlacht zu sprechen.

Bei all seinen Verdiensten ist auch der große Karl Popper einer Fehleinschätzung unterlegen, was ihn uns menschlich erscheinen läßt. Aufgrund falscher Prämissen lehnt er Nationalstaat und Nation ab. Er sieht erstens nur eine ethnisch dauerhaft homogene Nation als Träger jedes Nationalstaates. Zweitens würde jeder Nationalstaat automatisch in übersteigerten Nationalismus abgleiten. Wegen dieser beiden (falschen) Prämissen ist seine ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalstaat zwar konsequent, dennoch bleibt sie ein Irrtum. Die modernen Nationalstaaten waren ursprünglich ethnisch homogen, stehen aber für Einwanderung offen und werden dadurch ihre ethnische Homogenität allmählich einbüßen.

Die Nationalstaaten müssen dadurch allerdings ihren jeweiligen Grundcharakter nicht zwangsläufig verlieren, denn trotz ethnischer Heterogenisierung kann ihre kulturelle Homogenität und somit die Nation erhalten bleiben. Das dazu von dem Entwicklungsökonomen Paul Collier („Exodus“) etablierte Zauberwort heißt „Assimilationsrate“. Es geht also bei gelingender Einwanderung in Nationalstaaten um Augenmaß, Kontrolle und Assimilation.

Für die Abschaffung von Nationalstaaten zu sein, weil man für die offene Gesellschaft eintritt, entpuppt sich als populärer Irrtum, denn gerade in unserer globalisierten Welt erweisen sich moderne Nationalstaaten als Hauptpfeiler von Demokratie und offener Gesellschaft. Noch wirken sie wie stabile Bezugspunkte sowie Refugien der Ordnung in einer unübersichtlicher werdenden Welt.

Jeder wirkliche Verfechter einer offenen Gesellschaft, so sehen wir jetzt, wird eine unbeschränkte, im Wortsinn grenzenlose Migration ablehnen, denn diese würde unter den jetzigen Bedingungen die offenen Gesellschaften zerstören und weltweit mit allen Konsequenzen zu einem Rückfall in geschlossene Gesellschaften führen. Eine wirkliche Steuerungsmöglichkeit von Migration kann es jedoch nur geben, wenn Grenzen existieren und diese auch effektiv kontrolliert werden.

Wer in Europa weiterhin offene Gesellschaften haben möchte, der kommt nicht umhin, eine adaptierte australische Lösung einzuführen und die entsprechenden rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen. Die offene Gesellschaft steht bei Strafe des eigenen Untergangs in der Pflicht, sich zu schützen.

Am Ende seines Werks appelliert Popper ganz im Sinne Kants und Sokrates’ an das menschliche Individuum, an Vernunft, Verantwortungsgefühl und Realitätssinn: „Die Geschichte“ kann nicht fortschreiten, „nur wir, die menschlichen Individuen, können es tun“, indem „wir jene demokratischen Institutionen stärken, von denen die Freiheit und mit ihr der Fortschritt abhängt. Und wir werden es viel besser tun, sobald wir einmal die Tatsache erkannt haben, daß der Fortschritt bei uns liegt, daß er abhängt von unserer Wachsamkeit, von unseren Anstrengungen, von der Klarheit, mit der wir unsere Ziele vorstellen, sowie auch vom Realismus unserer Wahl.“

Einem utopisch-totalitären „Wir schaffen das“ hielt Popper in weiser Voraussicht entgegen: „Statt als Propheten zu posieren, müssen wir zu den Schöpfern unseres Geschicks werden.“ Die von den Pseudoeliten aktuell dazu propagierte Alternative hat uns Popper mahnend vor Augen geführt: „Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen – wir müssen zu Bestien werden.“






Dirk Driesang, Jahrgang 1964, ist seit 1996 Opernchorsänger an einem Bayerischen Staatstheater. Er studierte Chemie (Vordiplom) und sodann Musik mit Hauptfach Gesang am Peter-Cornelius-Konservatorium in Mainz. Driesang war 2014 bayerischer AfD-Spitzenkandidat zur Wahl des Europäischen Parlaments sowie von 2015 bis 2017 Mitglied im Bundesvorstand der AfD.

Foto: Sir Karl Popper (um 1980): Hochaktuelle Lektüre vor dem Hintergrund der deutschen Gegenwart