© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Nach dem Sankt-Florian-Prinzip
Die Konferenz von Évian-les-Bains über die Aufnahme verfolgter Juden endete im Juli 1938 unverbindlich
Erich Körner-Lakatos

Im großen Konferenzsaal des noblen Hotels Royal in Évian-les-Bains fand vom 6. bis 15. Juli 1938 eine internationale Konferenz statt. Auf Initiative des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt berieten Diplomaten aus 32 Staaten über die Situation der Flüchtlinge – vornehmlich Juden – aus Deutschland und Österreich, um eine Lösung durch Aufnahme anderswo zu finden. Bestimmte Länder wie etwa die Sowjetunion werden nicht eingeladen, obwohl gerade im fernöstlichen Autonomen Gebiet Birobidschan – dort wird sogar Jiddisch geredet – genug Platz für Hunderttausende wäre. 

Eine bittere Wahrheit dieser Tagung im Luxushotel am Südrand des Genfer Sees war auch: Die Emigrationswilligen waren nirgends erwünscht. Auch der späteren israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir, die als Beobachterin des palästinensischen Mandatsgebietes teilnahm, schwante Übles: „Es wurde mit Eiseskälte klar, daß das jüdische Volk gänzlich auf sich allein gestellt war“, schrieb sie später.

Zuerst sollte die Konferenz in Genf stattfinden, doch die Schweiz fürchtete dadurch einen Zwiespalt mit dem deutschen Nachbarn. Daher erklärte sich Paris widerwillig dazu bereit, das Treffen im Kurort im französischen Hochsavoyen stattfinden zu lassen. Zwei der neun Tage verbrachten die Organisatoren allein damit, einen Vorsitzenden der Konferenz zu finden, denn alle Beteiligten fürchteten, ihr Name würde künftig an den Mißerfolg gekettet sein. US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte nämlich schon vorab erklärt, daß kein Staat zur Aufnahme von mehr Flüchtlingen angehalten werden könne, als es seine geltenden Gesetze ohnehin schon erlaubten. Es ginge also bloß um freiwillige Zusagen.

Ein karibischer Diktator machte großzügiges Angebot

Nun, wie reagieren die Vertreter der verschiedenen Staaten? Britanniens Delegierter Lord Edward Winterton meinte, das Vereinigte Königreich sei kein Einwanderungsland. Was die Kolonien und Besitzungen in Übersee betreffe, müsse man die klimatischen, rassischen und politischen Bedingungen bedenken, die einer Einwanderung entgegenstünden. Immerhin eröffnete er die vage Aussicht, möglicherweise könne eine begrenzte Zahl ausgewählter Familien zumindest für einen Anfang in gewissen Gegenden Ostafrikas unterkommen.

Myron C. Taylor, USA, wiederum stellte in seinem einleitenden Referat klar, die Vereinigten Staaten seien nicht gewillt, ihre eigene Quote zu erhöhen, die 27.370 Einwanderer aus Deutschland und Österreich jährlich zulasse – vorausgesetzt, sie sind in der Lage, die strengen Visabedingungen zu erfüllen. Kanada wiederum erlaubte die Einreise bloß jenen, die das Vermögen zur Bewirtschaftung einer Farm mitzubringen imstande waren. Der Vertreter Australiens erklärte, sein Land habe keine echten Rassenprobleme und sehne sich nicht danach, eines zu importieren, „indem wir einen Plan für die großangelegte Einwanderung unterstützen“. Die Staaten des Commonwealth, Kanada, Neuseeland und Australien, beharrten darauf, nicht unabhängig von ihrem britischen Mutterland entscheiden und nur angelsächsische Einwanderer aufnehmen zu können. Lateinamerikanische Delegierte verwiesen auf die landwirtschaftliche Struktur ihrer Staaten, die es nur ermögliche, Bauern aufzunehmen, aber keine Intellektuellen und Händler.

Der belgische Delegierte wandte ein, sein Land wolle keine weiteren Juden mehr aufnehmen, weil sonst gesellschaftliche Erschütterungen, ja sogar eine antisemitische Welle zu befürchten sei. Heinrich Rothmund, Chef der schweizerischen Fremdenpolizei, der sein Land in Évian vertrat, verwies darauf, daß die Schweiz nur ein Transitland sein könne und zudem keine Flüchtlinge hereinlasse, die über ein Drittland eingereist seien. Ein halbes Jahr später wurde Rothmund deutlicher: „Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen“, schreibt er im Januar 1939 dem Schweizer Gesandten in den Niederlanden. 

Ein Artikel der südafrikanischen Zeitung Rand Daily Mail vom 6. Juli 1938 sorgte dabei für Aufsehen. So meldete das Blatt, Juden sollten auf Madagaskar angesiedelt werden, damals Teil des französischen Kolonialreichs. Doch daraus sollte nichts werden.

Die höhnische Schlagzeile im Völkischen Beobachter vom 13. Juli 1938 „Keiner will sie haben“ (nämlich die Juden) erwies sich zumindest in einem Fall als falsch. Denn in Évian betrat ein vermeintlicher Retter die Bühne: Rafael Trujillo. Das Staatsoberhaupt der Dominikanischen Republik beschämte die nach dem Sankt-Florian-Prinzip handelnden Großmächte durch ein faires Angebot. Sein Land, die östliche Hälfte der Karibikinsel Hispaniola, biete sage und schreibe 100.000 Juden eine neue Heimat als Farmer an – vergeblich. In der Kolonie Sosúa, welche Trujillo dafür gründete, landeten bis Ende des Zweiten Weltkrieges gerade einmal 600 Flüchtlinge. Ihre Spuren verliefen sich rasch. 

Massenhafter Judenmord war für niemanden absehbar

Der Spiegel berichtete 2006 unter dem Titel „Vertreibung ins Paradies“ über den 98jährigen Kurt Luis Hess aus Erfurt: „Ein paar Boote schaukeln im klaren, türkisfarbenen Wasser, Palmen säumen den feinsandigen Strand und wiegen sich in der leichten Brise, die vom Atlantik her weht. Auf einem Felsvorsprung hat es sich ein alter Mann bequem gemacht. Er genießt den Blick auf die sichelförmige Bucht des Touristenstädtchens Sosúa im immergrünen Norden der Dominikanischen Republik. (...) Er strahlt eine große Zufriedenheit aus auf seine alten Tage, und es hat den Anschein, als hätte ein gutsituierter Pensionär aus Deutschland für den Lebensabend einen Garten Eden gefunden. Der Schein trügt. Kurt Luis Hess ist in höchster Not hierhergekommen.“ Nicht immer sei alles eitel Sonnenschein gewesen, so Hess, „wir lebten nicht nach den Idealen, die die Kibbuze in Israel später erfolgreich werden ließen. Es gab viel Streit, weil jeder nur an seinen Vorteil dachte und vor allem Geld machen wollte.“ Freilich: „Alles in allem hatte ich großes Glück, ich hätte auch in Auschwitz enden können.“ Bleibt die große Frage: Warum folgten nur so wenige der Einladung ins karibische Paradies?

Diese Frage knüpft direkt an den Streit unter Historikern an, die nach 1945 die Konferenz von Évian einzuordnen versuchten. So belastete der Schweizer Ralph Weingarten in seiner Untersuchung „Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage: Das ‘Intergovernmental Committee on Political Refugees’ IGC 1938–1939“ (Bern 1983) die Teilnehmerstaaten schwer: „Alle Völker der Welt“ seien durch ihre zögerliche Asylpolitik 1938 auch „an der Endlösung und deren Ausmaß voll mitschuldig“ geworden. Markus Brechtgen, stellvertretender Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, hatte in seiner Dissertation „‘Madagaskar für die Juden’. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885–1945“ von 1994 dieser These Weingartens widersprochen, da sie eine ahistorische Sicht einer Beurteilung vom Ende her folge und zudem in den moralischen Maßstäben die Täterverantwortlichkeit am Judenmord relativiere.

„Wißt ihr denn nicht, daß diese verdammten ‘Zahlen’ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“ haderte Golda Meir nach der Konferenz über das Geschachere von Aufnahmequoten. Tatsächlich ging auch sie zu diesem Zeitpunkt von einer bedrückenden Verfolgungssituation bis hin zur jahrelangen Lagerhaft im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich aus. Ein rassistischer Massenmord bewegte sich im Sommer 1938 aber für Meir ebenso wie für die Èvianer Konferenzteilnehmer oder jene Juden, die ihr Schicksal nicht an das hehre Versprechen eines karibischen Potentaten knüpfen wollten, außerhalb jedweder Vorstellung.