© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Ein Vater klagt an
Justizskandal in Sachsen-Anhalt: Ein Mann stirbt nach Schlägen eines jungen Syrers / Die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau will nur Notwehr erkennen / Die Ermittlungen schleppen sich bisher über neun Monate dahin
Martina Meckelein


Ungerührt, aber wahrhaftig tut am 29. September 2017 eine Videokamera an der Tür Ost des Einkaufszentrums Arsenal in Lutherstadt Wittenberg ihre Pflicht. Sie filmt den Kundenverkehr vor dem Eingang. Ab 14.54 Uhr und 36 Sekunden dokumentiert sie den Beginn des Sterbens eines Mannes. Sie tut das ohne Ansehen der Person. Ohne nach Geschlecht, politischer Einstellung, Nationalität oder Motiv zu fragen. Das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Doch es scheint, daß weder die Staatsanwaltschaft in Sachsen-Anhalt noch die Justizministerin sich für diese Aufnahmen interessieren. Ganz im Gegenteil, sie erzählen öffentlich eine andere Geschichte, eine, die das Video nicht hergibt.

Dies ist die Geschichte über den Umgang des Staates mit dem Tod des Marcus Hempel, eines Deutschen. Er wurde 30 Jahre alt. Er starb am 29. September 2017 um 23.37 Uhr an einem malignen Hirnödem im Städtischen Klinikum Dessau.

„Das Schlimmste, was man erleben kann, ist es, sein Kind zu verlieren“, sagt Karsten Hempel (53), Marcus’ Vater. „Aber wenn es dann auch noch verunglimpft wird, wie mein Sohn durch die Staatsanwaltschaft Dessau, das ist für die Angehörigen unmenschlich. Das ist erniedrigend.“ Karsten Hempel hat Tränen in den Augen, als er das sagt.

Der Bauleiter ist mit Laptop und Aktenordnern ins Büro des AfD-Landtagsabgeordneten Thomas Höse (50) nach Wittenberg gekommen. Die beiden Männer vertrauen sich. Kennengelernt haben sie sich nach Marcus’ Tod. „Ich las zum ersten Mal in unserem Wochenblatt vom Tod des jungen Mannes“, sagt Höse. „Ich begann zu recherchieren, und mir fiel auf, daß es zwei verschiedene Versionen der Tat gibt.“ Höse spielt auf zwei Pressemitteilungen an. Die eine stammt von der Polizei, die andere von der Staatsanwaltschaft. Die der Polizei ist vom 1. Oktober 2017. Die Ermittler bewerten die Schlägerei als Körperverletzung mit Todesfolge. Die der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau ist vom 2. Oktober 2017. Dort wird der Fall als „Notwehrhandlung (mit tragischen Folgen) ...“ bezeichnet. „Ich rief daraufhin Herrn Hempel an und bot ihm meine Hilfe an“, sagt Höse. „Ohne seine Hilfe“, sagt Hempel, „wäre alles im Sande verlaufen.“

Was ist an diesem 29. September 2017 passiert? Um diese Frage zu beantworten, schaut Karsten Hempel sich immer wieder diesen einen Videofilm an. Schon Hunderte Male. Er kennt ihn auswendig. Er kennt jede Bewegung, die sein Sohn macht – und jede Bewegung der vier anderen Männer, laut Staatsanwaltschaft syrische Asylbewerber.

An diesem Tag ist Marcus Hempel, ein gelernter Schlosser und Schweißer, mit einer Bekannten (24) per Fahrrad unterwegs. Auf dem Video der Überwachungskamera, zwar tonlos, aber mit Zeitleiste, ist zu sehen, wie beide um 14:54:36 Uhr vor dem Einkaufszentrum Arsenal eintreffen. Sie schieben ihre Räder über das Kopfsteinpflaster, suchen einen Platz, um sie anzuschließen. In diesem Moment halten sich die vier jungen Syrer vor dem Eingang auf. Einer von ihnen, er trägt eine schwarze Baseballkappe, einen schwarzen Rucksack, ein weißes Oberteil, Jeans und Turnschuhe, guckt zu Marcus. Dann hebt er den linken Arm und macht mit der Hand ein Zeichen in dessen Richtung. „Meines Erachtens ein Stinkefinger“, sagt Marcus’ Vater. Ob Marcus diese Bewegung nicht bemerkt oder darauf nicht reagieren will, erkennt man nicht. Die Syrer schauen immer wieder zu dem Pärchen, das an einem Fahrradständer Platz gefunden hat und die Räder anschließt. Die Männergruppe scheint die beiden zu umkreisen. Dann gehen Marcus und seine Begleiterin ins Einkaufszentrum, an dem Syrer vorbei, der auf sie einzureden scheint. Doch im Vorraum des EKZ kehren die beiden um.

„Der treibt meinen Sohn regelrecht über die Straße“

Die Staatsanwaltschaft erklärt diese Kehrtwende in einem krude zu lesenden Satz: „Vermutlich auf Erwiderungen aus dem Kreis der Syrer auf vorausgegangene zum Teil ausländerfeindliche Beschimpfungen kehrten beide zurück zu der Gruppe der Syrer.“

Die sechs stehen eng beisammen. Scheinen zu reden. Immer wieder versucht Marcus’ Begleiterin, die griechischstämmige Kirsti Maria R., die Männer zu trennen. Sie breitet die Arme aus, um Abstand zu erreichen. In einem Interview mit der Bild-Zeitung erzählt Marcus’ Begleitung: „Dann hat der Syrer Marcus gestoßen. Ich bin dazwischengegangen. Dann packte der mich am Arm, Marcus schubste ihn weg, sagte, er solle mich nicht anfassen und in Ruhe lassen.“

Auf dem Video ist die Rangelei nicht genau zu erkennen, aber daß Marcus von einem Syrer zuerst geschubst wird und daraufhin diesen schlägt, ist erkennbar. „Es ist der, der zuvor den Stinkefinger gezeigt hat“, sagt Marcus’ Vater. Marcus schlägt mit der rechten Hand, in der linken Hand hält er eine Wasserflasche. Der Kopf des Syrers mit der Baseballkappe dreht sich nach rechts. Daraufhin explodiert der Syrer förmlich. „Der treibt meinen Sohn regelrecht quer über die Straße.“ Viereinhalb Meter weicht Marcus zurück. Die Strecke hat sein Vater nach dessen Tod anhand der Videoaufzeichnungen ausgemessen. Der Syrer ist schnell. Breitbeinig steht er vor Marcus, als er zum erstenmal ausholt und ihm mit der rechten Faust ins Gesicht schlägt. Marcus reißt die Arme hoch, da schlägt der Syrer schon mit der linken Faust zu. Dann wieder mit rechts. Dabei fliegt dem Syrer die Schirmmütze vom Kopf.

Seine Faust erwischt Marcus am Kinn. Marcus’ Beine knicken. „Da war mein Sohn schon weg, da war es schon aus“, kommentiert Hempel die Sequenz des Videos. Aber es ist für den Syrer nicht genug. Sein Gesicht ist wutverzerrt. Seine Linke schnellt hervor – es sieht fast nach einem Handballenschlag aus. Er trifft die rechte untere Gesichtshälfte von Marcus. Der fällt nach hinten. Um 14:56:02 Uhr bricht der Deutsche zusammen. Der Syrer holt noch einmal mit rechts aus – da fällt Marcus rückwärts auf die Straße, sein Hinterkopf trifft auf die Gehwegplatten auf. Der Syrer beendet den fünften Schlag nicht mehr. Ungerührt flaniert er mit seinen drei Kumpanen vom Tatort weg. 

Passanten kümmern sich um Marcus, alarmieren die Polizei.Karsten Hempel ist zu dem Zeitpunkt im Urlaub in Kroatien. „Ich hatte einen Tag zuvor Geburtstag“, erzählt er. „Am Sonntag, dem 1. Oktober, bekam ich eine SMS von einem Freund. Der schrieb mir, mein Sohn sei tot. Es war kurz nach 15 Uhr. Ich bin dann allein an den Strand gegangen, habe alles sacken lassen.“ Der Vater ist am Montag nach 1.400 Kilometern Autofahrt zu Hause. Am Dienstag meldet er sich bei der Polizei. „Die sagten, ich solle mich an die Staatsanwaltschaft wenden.“

In der Zwischenzeit machen Freunde den Vater auf die verschiedenen Pressemitteilungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft aufmerksam. „Ich dachte, da muß was faul sein“, sagt der Vater. „Ich kenne meinen Sohn. Der stellt sich doch nicht vor vier Männer und hält sich für Schwarzenegger.“ Hempel nimmt sich einen Anwalt. Am 6. November bekommt Hempel die Akten der Staatsanwaltschaft. „Den Film schaute ich mir erst mal alleine an. Die ersten 20- bis 30mal nur die Szene, wie er aufschlägt. Da ist nur Trauer in dir, aber dann fängst du an, genauer und genauer hinzusehen.“

Am 28. November beantragt Hempel bei der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau eine Altersfeststellung des Schlägers. „Doch die wurde bisher mit dem Hinweis abgelehnt, sie werde erst dann vorgenommen, wenn die Sache anklagereif sei – um überflüssige Kosten zu sparen, sollte die Sache eingestellt werden.“ Hempel hat jedoch noch weitere Fragen an die Ermittler: „Wer ist der vierte Mann mit den roten Turnschuhen, der auf dem Video zu sehen ist? Die Polizei sagt, sie suche ihn, warum findet sie den denn nicht?“

Der Syrer, der Marcus Hempel zusammenschlug, soll am 2. Januar 2000 in Idlib, in Nordwest-Syrien geboren sein. „So steht es in den Akten“, sagt Hempel. „Am 12. August 2015 erfolgte die Meldung seiner Ersteinreise über Halberstadt. Er hat eine Aufenthaltserlaubnis bis 2020. Seine Eltern sollen im Rahmen der Familienzusammenführung 2017 zugezogen sein.“

Auf seiner Facebook-Seite gibt der Syrer als Lebensmotto folgenden Satz an: „Nicht alles, was glänzt, ist Gold“. Interessiert ist er an: „Frauen“. Er gibt Wittenberg als Heimatstadt an, als aktuellen Wohnort Magdeburg. Dorthin scheint er erst nach dem 29. September 2017 gezogen zu sein. Denn vorher lebte er, genau wie Marcus Hempel, in Wittenberg-Pratau.

„Die wohnten in einer Wohnanlage“, sagt Karsten Hempel. Das ist insofern interessant, als daß Marcus’ Freundin vor der Polizei aussagte, daß es mindestens einen Zusammenstoß der beiden Männer vor der Tat gegeben haben soll. „Mein Sohn führte öfter den Hund eines Freundes aus“, sagt Hempel. „Seine Freundin gab zu Protokoll, daß Marcus einmal von mehreren Syrern beim Gassigehen mit Joker, so heißt der Hund, angepöbelt worden sei. Die Männer hätten Joker als Nazihund und ihn als Nazi bezeichnet.“

Kein Staatsanwalt hat bisher Anklage erhoben

Thomas Höse schüttelt bei diesen Schilderungen des Vaters, der sein einziges Kind verloren hat, immer wieder den Kopf. „Wir hatten ja im Landtag den Antrag gestellt, die Regierung möge uns über den Fall berichten. Wer den Videofilm nicht kennt, denkt, die Antworten seien korrekt. Sie decken sich mit der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft, daß Marcus Hempel zweimal auf den Syrer einschlug und der ihn einmal schubste und einmal schlug.“

Hempel kämpft weiter. Er will, daß der Fall zur Anklage kommt. Doch die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau ermittelt gar nicht mehr. Der Fall kam nach Magdeburg. Weil der Syrer umgezogen ist? „Wir haben die Landesregierung gefragt, warum ein Wechsel der Staatsanwaltschaft stattfand – bisher keine Antwort“, sagt Höse. Magdeburg ermittelt wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Staatsanwalt Armin Gebauer: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sind, können wir nicht sagen.“ Der Syrer ist auf freiem Fuß und schweigt.





Strafrabatt für Ausländer?

Braunschweig:

Ein 24jähriger Asylbewerber zerrt im November 2016 in der Landesaufnahmebehörde in Braunschweig-Kralenriede eine aus Serbien stammende Asylbewerberin (24) in sein Zimmer, verschließt die Tür und vergewaltigt sie. Wegen anderer Delikte saß der Somalier seit Februar dieses Jahres in Untersuchungshaft. Unter den Einträgen im Strafregister stehen Urteile wegen schwerer Körperverletzung, Diebstahls und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Seit Juni 2018 sitzt der Täter in normaler Strafhaft, weil er Strafen aus zurückliegenden Verhandlungen nicht zahlen konnte. Vor der Hauptverhandlung einigen sich die Prozeßbeteiligten auf einen Handel: Geständnis gegen Bewährungsstrafe. Ungeachtet der Schwere der Tat – das Opfer war klein, zierlich und schwach, so die Staatsanwältin – verurteilte das Amtsgericht den Angeklagten im Juni 2018 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe.

Zwickau:

Der algerische Intensivtäter Abdel S. (28) lebte seit 2015 im sächsischen Plauen. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, seit Februar 2017 hielt er sich illegal in Deutschland auf. In kurzer Folge beging er schwere Straftaten und erhielt mehrfach Strafen: Erschleichen von Leistungen, Wohnungseinbrüche, gefährliche Körperverletzung, versuchter schwerer Raub. Weil er einem Mann mit einem Messer die linke Wange aufschnitt, verurteilte ihn Amtsrichter Stephan Zantke (Zwickau) zu dreieinhalb Jahren Haft. S. ging in Berufung. Das Landgericht Zwickau verkürzt am 24. April 2018 seine Strafe auf zwei Jahre und sechs Monate. Der Vorsitzende Richter Rupert Geußer begründete unter anderem: „Als Ausländer leiden Sie unter erhöhter Haftempfindlichkeit.“ Die bestehe durch die mangelnden Deutschkenntnisse des Verurteilten. Juristische Kommentare zum fraglichen Paragraphen 46 Strafgesetzbuch sehen in Verständigungsproblemen wegen mangelnder Sprachkenntnisse einen möglichen Anlaß für eine besondere Haftempfindlichkeit. 

Cottbus:

Der aus Tschetschenien stammende, ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber Rashid D. ermordet im November 2016 seine Frau, die Mutter der gemeinsamen fünf Kinder. In der Wohnung im brandenburgischen Senftenberg fügt er der 27jährigen 19 Messerstiche zu, wirft die Frau aus dem Badezimmerfenster im ersten Stock, läuft hinunter und schneidet der bereits tödlich Verletzten vor dem Hauseingang des Plattenbaus die Kehle durch. Aus Eifersucht, weil er glaubte, seine Frau sei untreu. Kurz nach der Tat soll er zu einer Polizistin gesagt haben, wenn eine Frau fremdgehe, habe der Mann das Recht, sie zu töten, so stehe es im Koran. Einen Monat vor der Tat hätte er abgeschoben werden sollen. Die Anklage vor dem Landgericht Cottbus lautete zunächst auf Mord. Verurteilt wurde D. im Juni 2017 zu 13 Jahren Haft wegen Totschlags. Auch die Staatsanwaltschaft plädierte nur noch auf Totschlag. Das Gericht sah keinen „niederen Beweggrund“ mehr und damit kein Mordmerkmal. Der Täter sei, so der Vorsitzende Richter Frank Schollbach, „seinem muslimischen Glauben verhaftet gewesen“. 

Bonn:

Im Stadtteil Bad Godesberg wurden der Schüler Niklas P. und seine zwei Begleiter im Mai 2016 auf dem Nachhauseweg von mehreren Männern mit Migrationshintergrund beschimpft, geschlagen und getreten. Der in den Ermittlungen zunächst als Haupttäter geführte Walid S. (21) soll den 17jährigen mit einem Fausthieb zu Boden geschlagen und ihm dann mit voller Wucht gegen den Kopf getreten haben. Sechs Tage darauf stirbt Niklas in der Uni-Klinik. Im Prozeß wurde bei Niklas eine Vorschädigung im Gehirn geltend gemacht, ohne die der Tritt nicht tödlich gewesen wäre. Die Staatsanwaltschaft schwächte den Vorwurf im Verlauf des Verfahrens von Totschlag auf gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge ab. Ein Jahr nach der Tat sprach das Landgericht Bonn den Angeklagten aus Mangel an Beweisen frei.